Den Schlüssel zum Verständnis emotionaler Probleme liefert aus meiner Sicht die Bindungstheorie des Psychoanalytikers John Bowlby und seiner Mitarbeiterin Mary Ainsworth.
Bowlby und Ainsworth entdeckten im letzten Jahrhundert, dass sich die Interaktionen zwischen einem Säugling bzw. einem Kleinkind und seiner Bindungsperson oder seinen Bindungspersonen – häufig, aber nicht notwendigerweise Mutter und Vater – ganz entscheidend auf seine Entwicklung auswirken. Maßgeblich dabei ist die Feinfühligkeit der Bezugspersonen. Drei typische Bindungsmuster kristallisierten sich heraus:
a) Sichere Bindung: Menschen mit einem sicheren Bindungsmuster hatten Bezugspersonen, die feinfühlig ihre Bedürfnisse wahrgenommen und angemessen darauf reagiert haben. Ist dem Säugling heiß oder kalt? Ist er müde oder hat er Hunger? Braucht er Trost oder möchte er spielen? Solche Bezugspersonen lassen das Kind ohne Bevormundung seine Welt erforschen, sind aber sofort zur Stelle, falls es Unterstützung oder Trost braucht. Menschen, die ein sicheres Bindungsmuster verinnerlicht haben, trauen sich zu, schwierige Situationen zu meistern. Sie haben ja wiederholt die Erfahrung gemacht, dass sie, falls nötig, Hilfe bekommen. Sie können ihre Emotionen regulieren und meistern in der Regel erfolgreich ihr Leben.
b) Unsicher-vermeidende Bindung: Menschen, die ein unsicher-vermeidendes Bindungsmuster verinnerlicht haben, hatten Bezugspersonen, die ihre Bedürfnisse falsch oder gar nicht wahrgenommen und nicht angemessen auf diese reagiert haben. Aufgrund des Schmerzes, der daraus resultiert, dass diese Bedürfnisse nie gehen und erfüllt worden sind, wurden sie abgekapselt und verdrängt. Diese Menschen trauen sich wenig zu, da sie nie dabei unterstützt wurden, schwierige Situationen zu bewältigen und ihre Emotionen zu regulieren. Sie nehmen ihre Umwelt als feindseliger wahr als sicher gebundene Menschen und vermeiden enge Beziehungen, da sie sich unbewusst davor fürchten, dass ihre Bedürfnisse erneut nicht gesehen und erfüllt werden. All das führt dazu, dass diese Menschen weniger Erfolg im Leben haben als solche mit einem sicheren Bindungsmuster.
c) Unsicher-ambivalente Bindung: Dieses Bindungsmuster entsteht, wenn Menschen Bezugspersonen hatten, die manchmal feinfühlig auf ihre Bedürfnisse eingegangen sind und manchmal nicht, weil sie zu sehr mit sich selbst und ihrem eigenen Leben beschäftigt waren. Die Unsicherheit entsteht dadurch, dass diese Menschen nie vorhersehen konnten und nie wussten, ob sie Unterstützung bekommen. Im späteren Leben führt das zu einer Angst davor, auch einmal Risiken einzugehen, und zu einer tiefen Sehnsucht nach Bindung, verbunden mit ständiger Furcht davor, verlassen oder allein gelassen zu werden.
Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass es noch einen weiteren Typ gibt, der sich am pathologischen Ende des Spektrums befindet: das desorganisierte Bindungsmuster. Dieses entsteht, wenn Bezugspersonen gewalttätig und/oder missbrauchend waren, und hat katastrophale Auswirkungen auf die spätere Entwicklung eines Menschen.
Wie kann Focusing nun dabei helfen, unsichere Bindung zu überwinden oder zu heilen? Zunächst einmal muss gesagt werden, dass sich alle drei bzw. vier Muster tief verinnerlicht und in die neuronalen Strukturen unseres Gehirns eingebrannt haben. Das liegt darin, dass Säuglinge und Kleinkinder über einen sehr langen Zeitraum hinweg hilflos und abhängig von ihren Bezugspersonen sind, deutlich länger als andere Primatenkinder, und somit gezwungen werden, sich an deren Strukturen anzupassen. Will man an den verinnerlichten Strukturen und Mustern arbeiten, handelt es sich daher um ein langfristiges Unterfangen.
Ich schlage zwei Strategien vor, die beide von großer Bedeutung sind:
1. Mit Focusing können wir mehr oder weniger direkt zu den Teilen unserer selbst in Beziehung treten, die unsicher und verzweifelt sind, die eine tiefe Sehnsucht nach Bindung in sich tragen, die nie genug bekommen haben. Beim unsicher-ambivalenten Muster geht das vergleichsweise schnell. Beim unsicher-vermeidenden Typ werden in der Regel zunächst Abwehrmechanismen dazwischenfunken – die Teile, die ursprünglich die Bindungswünsche abgekapselt haben, weil sie den Schmerz nicht aushalten konnten, dass diese nicht erfüllt wurden. Melden sich diese Teile, benötigen sie zuerst Aufmerksamkeit. Ist jedoch der Kontakt zu den Teilen erst einmal hergestellt, die die unerfüllten Bindungswünsche haben, brauchen diese über eine langen Zeitraum unser sanftes und empathisches Dabeisein. Dieses Dabeisein ist genau das, was ihnen immer gefehlt hat.
2. Die zweite Strategie besteht darin, Interaktionen bewusst wahrzunehmen und zu verinnerlichen, die die Teile in uns nähren, die Bindung- und Beziehungswünsche in sich tragen. Manchmal sind das ganz einfache und banale Situationen, wie beispielsweise, wenn die Bäckerin hinter der Ladentheke ganz besonders warmherzig und freundlich ist. Mit Focusing können wir diese Erfahrungen, so kurz sie auch andauern, in uns spüren und speichern. Wie fühlt sich das Gespräch mit der Bäckerin an? Vielleicht spüren wir einen warmen Fluss vom Magen in den Bauch oder eine Leichtigkeit im Solarplexus. Nach und nach können wir uns so mit wohltuenden Interaktionen „füllen“.
Ist die Bindungsunsicherheit jedoch sehr gravierend, besteht der Königsweg in einer Psychotherapie mit einer empathischen Therapeutin oder einem empathischen Therapeuten. Diese heilende Interaktion kann noch verstärkt werden, wenn wir in der Therapie Strategie 1 anwenden und Kontakt aufnehmen zu den Teilen in uns, die nie das bekommen haben, was sie gebraucht hätten. Das funktioniert auch dann, wenn die Therapeutin oder der Therapeut Focusing gar nicht kennt.
Wie sind nun die Erfolgsaussichten? Wie stehen die Chancen, ein unsicheres Bindungsmuster zu heilen oder zu überwinden? Vermutlich ist es nicht möglich, von einem extrem unsicheren Muster zu einem sehr sicheren zu kommen. Ich bin aber davon überzeugt, dass JEDER mit Hilfe der beiden oben genannten Strategien seinen Zustand verbessern kann, egal wo er oder sie steht. Mit dem Maß an Unsicherheit, das dann noch übrigbleibt, müssen wir einfach leben.
Ich persönlich hatte ein sehr ausgeprägtes unsicher-ambivalentes Muster. Manchmal, wenn ich zurückblicke, bin ich selbst überrascht, wie weit ich gekommen bin. Und auch mein Weg geht noch weiter.
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