Letzte Woche war ich nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder im Museo Reina Sofía im Zentrum Madrids, um mir Pablo Picassos Guernica anzusehen.
Das etwa 25 Quadratmeter große Gemälde zeigt die Zerstörung der baskischen Stadt Gernika durch Verbände der deutschen und italienischen Luftwaffe im Jahre 1937 während des spanischen Bürgerkrieges. Hitler und Mussolini hatten ihrem faschistischen Freund Franco diese Einheiten zur Unterstützung seines Feldzuges gegen die republikanische Regierung geschickt. (Falls es Sie interessiert, was genau abgebildet ist, googeln Sie einfach "Guernica".)
Als ich die riesige mamorgeflieste Halle des Museums betrat, in der das Gemälde ausgestellt wird, spürte ich den Impuls in mir, ein Foto zu machen, um dieses beeindruckende Kunstwerk immer bei mir zu haben. Vorsichtshalber fragte ich eine Museumswächterin, ob dies erlaubt sei, was sie verneinte. Ich sah jedoch, dass viele andere Besucher ihre Handys zückten und blitzschnell Fotos schossen, bevor die Museumsangestellten etwas sagen konnten.
Und etwas in mir wollte auch unbedingt ein Foto machen. Und etwas in mir wollte die Regel des Museums respektieren, das sich aufwendig um die Instandhaltung des Bildes kümmert, welches sich in einem sehr desolaten Zustand befindet.
Dann erinnerte ich mich an etwas, dass ich an anderer Stelle geschrieben hatte: Die Kunst fordert von uns, dass wir sie mit unserem ganzen körperlichen Erleben in uns aufnehmen und wirken lassen. Und genau das tat ich.
Zunächst beschieb ich für mich selbst jedes Detail des Gemäldes: "Da ist eine verzweifelte Frau, die ein totes Kind in den Armen hält. Und da ist ein sterbendes Pferd etc." Dann ließ ich das Kunstwerk einfach auf mich wirken und nahm es mit jeder Pore meines Körpers in mir auf.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, erschien vor meinem geistigen Auge eine sehr reale Szene von schreienden Menschen, die vor Bombern am Himmel durch die Straßen fliehen. Ich glaube, es ist genau das, was Picasso wollte.
Dieser Prozess dauerte etwas über eine halbe Stunde. Nun trage ich Guernica wahrhaft für immer bei mir - ganz ohne Foto!
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