Viele spirituelle Lehren postulieren, dass Leid durch Identifikation entsteht. Leid entsteht, wenn sich ein Mensch allzu sehr mit dem identifiziert, was in ihm vorgeht, mit Gedanken, Gefühlen, Körperempfindungen etc.
Auch aus Focusing-Sicht ist Identifikation die Wurzel allen Übels. Focusing beschränkt sich aber nicht darauf, diese Grundwahrheit zu postulieren, sondern lehrt Schritt für Schritt, wie man aus der Identifikation mit Bewusstseinsinhalten heraustritt und sich „disidentifiziert“.
Ein wichtiges Hilfsmittel dabei ist die Sprache. Anstatt zusagen: „Ich bin verzweifelt“, sagen wir: „Etwas in mir ist verzweifelt.“ Der Satz, der mit „Ich bin…“ beginnt, unterstützt die Identifikation mit dem, was verzweifelt ist. Der Satz, der mit „Etwas in mir…“ beginnt, unterstützt den Schritt heraus aus der Identifikation. Das, was verzweifelt ist, wird nicht geleugnet. Wir wollen aber auch nicht länger mit ihm identifiziert sein, sondern ihm gegenüber treten und uns mit ihm beschäftigen. Dieses Gegenübertreten wird unterstützt durch die Formulierung „Ich spüre etwas in mir, das…“, also zum Beispiel: „Ich spüre etwas in mir, das verzweifelt ist.“ Das Gefühl von Verzweiflung ist da, ICH bin aber auch da. ICH bin nicht ES, sondern ICH bin derjenige, der ES spürt. Das ist kein sprachlicher Trick, sondern ein radikaler Perspektivwechsel auf mich selbst, der durch die Sprache gefördert wird.
Natürlich erleben auch Focusing-Leute Wut, Trauer, Verzweiflung etc. Das Leben ist einfach so, dass immer wieder solche Gefühle ausgelöst werden. Wahres Leid entsteht aber erst, wenn wir uns mit ihnen identifizieren. Aus einer nicht-identifizierten Position heraus solche Gefühle wahrzunehmen fühlt sich DEUTLICH besser an, als mit ihnen verschmolzen zu sein, obwohl die Gefühle natürlich trotzdem noch da sind.
An dieser Stelle hören die meisten spirituellen Methoden und Praktiken auf. Focusing geht noch weiter. Aus der nicht-identifizierten Position heraus begegnen wir dem, was in uns vorgeht. Wir treten der Wut, Trauer, Verzweiflung etc. mutig gegenüber, um zu erspüren, welche unser Leben vorwärtstragende Botschaft darin liegt.
Ein ganz entscheidender Schritt dabei ist zu erspüren, wie sich das, was in uns vorgeht, auf rein körperlicher, rein somatischer Ebene anfühlt. Wo genau in meinem Körper spüre ich die Wut? Vielleicht in meiner Brust? Wie fühlt sich die Wut auf rein körperlicher Ebene an? Vielleicht wie ein Druck von innen nach außen? Wie etwas, das heraus will? So wie ein Vulkan, in dem sehr viel Energie steckt? Und schon sind wir von der Wut zu einem Gefühl von sehr viel Energie gekommen.
Wenn es uns gelingt, unser Erleben auf rein somatischer Ebene wahrzunehmen, kehrt sich etwas zuvor als negativ Wahrgenommenes in etwas Positives um. Jedes negative Gefühl, schreibt Gendlin, der Begründer von Focusing, weist in eine positive Richtung, ist ein Hinweisschild, wie unser Leben gelebt werden will. Focusing öffnet unsere Augen für dieses Hinweisschild und hilft uns, es zu entziffern.
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