Eugene Gendlins Focusing und Marshall Rosenbergs Gewaltfreie Kommunikation (GfK) haben gemeinsame Wurzeln. Sowohl Gendlin als auch Rosenberg haben bei Carl Rogers, dem Begründer des personenzentrierten Ansatzes, studiert. Beide wurden maßgeblich von Rogers' Menschenbild beeinflusst und genau wie Rogers betonen beide die Rolle von Empathie für psychisches Wachstum. Focusing und GfK setzen jedoch unterschiedliche Schwerpunkte.
Focusing beschäftigt sich mit der inneren Beziehung, also mit der Beziehung eines Menschen zu dem, was in ihm vorgeht, und lehrt Schritt für Schritt, wie eine innere Beziehung aufgebaut werden kann, die es ermöglicht, alles, was in einem vorgeht, mit Empathie wahrzunehmen, ohne sich mit etwas zu identifizieren und ohne etwas zu verdrängen.
GfK nimmt die zwischenmenschliche Beziehung in den Blick und lehrt, wie zwischenmenschliche Kommunikation so gestaltet werden kann, dass die Bedürfnisse aller Beteiligten befriedigt werden. Dieser Prozess lässt sich in vier Aspekte untergliedern:
a) Beobachtung ohne Bewertung
b) Benennung von Gefühlen
c) Benennung von Bedürfnissen
d) Formulierung von Bitten
Wenn ich beispielsweise meinem Nachbarn Folgendes ins Gesicht schleudere: „Wissen Sie nicht, wie spät es ist? Machen Sie verdammt nochmal die scheiß Musik aus, sonst rufe ich die Polizei!“, dann wird das vermutlich Widerstand hervorrufen.Vielleicht folgt der Nachbar auch meiner Aufforderung, weil er Angst hat, Ärger zu bekommen, und stellt die Musik aus. In beiden Fällen wird die nachbarschaftliche Beziehung jedoch langfristig belastet, worunter alle Beteiligten leiden werden.
Wenn ich stattdessen sage: „(a) Wenn Sie nachts Musik spielen, (b) werde ich wütend, (c) weil ich einen anstrengenden Tag hatte und Erholung brauche. (d) Würden Sie bitte morgen weiter Musik hören?“, dann ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass mein Nachbar meiner Bitte nachkommt und die Beziehung unbelastet bleibt. Reagiert er trotzdem pampig und sagt etwa: „Seien Sie doch kein Spielverderber“, kann ich das mit „GfK-Ohren“ hören und fragen: „Sind Sie sauer, weil Sie gerne Spaß haben möchten?“ Eine solche Interaktion garantiert zwar keinen Erfolg, erhöht aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir zu einem Ergebnis kommen, das allen gerecht wird.
Der intrapersonelle Focusing-Prozess und der interpersonelle Prozess der Gewaltfreien Kommunikation schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig:
Viele Menschen sind nicht in der Lage, ihre Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen und zu benennen. Es fehlt ihnen die innere Klarheit, die nötig wäre, um die vier Aspekte der GfK in Worte zu fassen, vor allem, wenn ein Mensch einen inneren Konflikt erlebt, von dem einzelne Teile unbewusst sind.
Um zu dem Beispiel von oben zurückzukehren: Jemand, der nachts die laute Musik seines Nachbar hört, nimmt vielleicht seine Wut und sein Bedürfnis nach Ruhe nicht bewusst wahr. Vielleicht spürt er nur ein Stechen in der Brust und er sagt sich selbst: „Ruhig bleiben! Ruhig bleiben!“ Wenn er sich dem Stechen in der Brust zuwenden und die für Focusing typische Beziehung dazu aufbauen würde, dann würde er vielleicht spüren, dass ETWAS in ihm wütend ist. Dieses Etwas kann zwar gespürt, nicht aber in Worte gefasst und somit nicht in den Gfk-Prozess eingebracht werden. Es ist implizit, wie wir im Focusing sagen, und kann nicht explizit werden, weil etwas im Wege steht, nämlich ein anderes Etwas, das sagt: „Ruhig bleiben! Ruhig bleiben!“ Vielleicht ist dieser Mensch so erzogen worden, dass er im Angesicht von Widrigkeiten die Ruhe bewahren soll, und wenn er sich diesem zweiten Etwas zuwenden würde, würde ermöglicherweise eine Sorge oder Angst darin spüren, abgelehnt oder lächerlich gemacht zu werden, wenn er seine Beschwerde vorträgt. Vielleicht würde er hinter oder unter diesen beiden inneren Teilen auch seinen Wunsch nach Ruhe finden. Ohne den inneren Nachspürprozess bleiben die Gefühle und Bedürfnisse jedoch unbenennbar.
Mit anderen Worten: Durch Focusing können wir uns innere Klarheit verschaffen, was in uns vorgeht, bevor wir anschließend mit anderen Menschen in Interaktion treten. Focusing lehrt uns jedoch nicht, wie diese Interaktion auf eine Weise gestaltet werden kann, die allen gerecht wird. Ich persönlich erlebe die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg in dieser Hinsicht als große Bereicherung für mein Leben.
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