Die Welt der Psychologie ist voller Diagnosen. Diejenige, die ich am häufigsten bei Erwachsenen höre, lautet "Depression" und bei Kindern und Jugendlichen "AD(H)S". Andere Diagnosen, von denen Menschen mir berichten, sind "Neurosen", "Schizophrenie", "Introjektionen", "Borderline-Störungen" und medizinisch klingende Begriffe, manchmal auch lateinischer Herkunft, die so kompliziert sind, dass ich sie mir nicht merken kann.
Bei solchen Begriffen handelt es sich aus meiner Sicht um Etiketten, die einer bestimmten Ansammlung von Symptomen aufgeklebt werden, um sie irgendwie handhabbar zu machen und darüber reden zu können.
Vielleicht macht das Sinn, um bei Krankenkassen Leistungen für dringend benötigte Hilfe abrufen zu können. Manchmal schafft es für die Betroffenen auch eine gewisse Erleichterung, endlich ein Wort zu haben, das einem erklärt, was mit einem angeblich los ist.
Häufig handelt es sich aber auch um ein Stigma, das nur schwer zu ertragen ist. Wer möchte seinen Kollegen schon erklären, dass sie in der nächsten Zeit die ganze Arbeit alleine machen müssen, weil er oder sie eine "post-traumatische Belastungsstörung" hat?
Aus Focusing-Perspektive sind all diese Etiketten und Kunstwörter, die man teilweise kaum aussprechen kann, komplett nutzlos. Wir Focusing-Leute diagnostizieren nicht und wenn uns ein Mensch, mit dem wir arbeiten, mit einem solchen Label konfrontiert, das ihm woanders aufgeklebt wurde, übernehmen wir den Jargon nicht und laden die Person stattdessen ein, ganz konkret in ihrem Körper nachzuspüren, wie sich "all das, was damit zu tun hat" dort anfühlt.
Wo kann sie das, was andere als "Neurose" bezeichnen, spüren? Wie fühlt es sich an? Ist es ein Ziehen oder Stechen oder Drücken? Hat es eine Farbe oder Form oder Temperatur? Wie ist die emotionale Qualität? Traurig? Verzweifelt? Ängstlich? Wütend? Oder fühlt es sich von seinem Standpunkt aus überraschenderweise gut an, wie das bei sogenannten "Perversionen" meistens der Fall ist?
Dieses ganz konkrete Nachspüren im Körper öffnet Tore für einen Veränderungsprozess, der verschlossen bleibt, wenn wir lediglich ÜBER das zugrundeliegende Erleben sprechen und mit Begriffen um uns schmeißen. Wenn innere Zustände ein Fachwort aufgeklebt bekommen, das im besten Fall Ehrfurcht einflößt und im schlechtesten Angst, wie beispielsweise "Psychose", dann wird der Heilungsprozess, der eigentlich möglich wäre, verhindert.
Wenn Ihnen also eine Diagnose ausgestellt wurde, dann legen Sie diese einmal eine Weile beiseite und spüren Sie nach, wie sich das, worum es geht, in Ihrem Körper anfühlt, und seien Sie offen für das, was Sie dort wahrnehmen. Das ist der Focusing-Weg!
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