Sigmund Freud endet seine Schrift Das Unbehagen in der Kultur aus dem Jahre 1930 mit folgenden Worten:
„Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung.“
Die tiefe Wahrheit, die aus diesen Worten spricht, spüren wir alle in diesen Tagen ganz besonders deutlich: Soeben haben wir gelernt, mit dem Coronavirus zu leben, und plötzlich ist die Rede von einem großen Krieg, gar von einem Weltkrieg, bei dem möglicherweise Atomwaffen eingesetzt werden. Das macht Angst! Eine schleichende Furcht kriecht uns in die Glieder, lähmt uns und überschattet alles. Wie sollen wir das eigentlich noch aushalten?
In jeder Angst steckt ein Nicht-Wollen: „Ich habe Angst“ lässt sich übersetzen mit „Ich will nicht“, ohne dass die innere Wahrheit verzerrt wird. „Ich habe Angst, dass bei uns Krieg ausbricht“ heißt „Ich will nicht, dass bei uns Krieg ausbricht“. Allein diese Umformulierung führt manchmal schon zu ein wenig Erleichterung.
Ihr eigentlicher Zweck ist jedoch, dass es durch sie leichter wird, das Nicht-Gewollte in seiner Tiefe zu erforschen. Was daran will ich nicht, FALLS bei uns Krieg ausbricht? Ich will nicht, dass sich mein Leben verändert, dass vielleicht mein Haus zerschossen wird und meinen Kindern die Zukunft geraubt wird. Was daran will ich nicht, FALLS das eintritt? Ein Gefühl von Schmerz, Verlust, Verzweiflung. Was daran will ich nicht, FALLS ich diese Gefühle erlebe? Das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Dass all das passiert, ohne dass ich etwas dagegen machen kann.
Geht man seiner Angst, oder besser gesagt, seinem Nicht-Wollen auf diese Art und Weise auf den Grund, wird es sehr konkret, sehr spezifisch und fühlt sich überraschenderweise besser an. Die Erkundung und Benennung unserer tiefsten Ängste nimmt ihnen ein Stück ihrer Energie und damit ihrer Intensität.
Der Prozess ist damit aber noch nicht beendet. In jedem Nicht-Wollen steckt auch ein Wollen. Schmerz, Verlust, Verzweiflung und Ohnmacht will ich nicht. Was ist es denn, das ich will? Dass ich die Kontrolle über mein Schicksal behalte, dass ich etwas machen kann, was hilft, und dass ich mich nicht ausgeliefert fühle. Was könnte ich denn tun, was würde sich richtig anfühlen? Dass ich mit den Menschen, mit denen ich arbeite und lebe, so interagiere, dass sie lernen, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Ich möchte in meinem Bereich einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass Menschen ihr Erleben wahrnehmen und es durch einen Prozess führen und es nicht ungefiltert einfach ausagieren. Das fühlt sich richtig und gut an!
Wenn wir unsere Angst in ein Nicht-Wollen verwandeln, dann seine tiefsten Wurzeln erspüren und anschließend nachspüren, welches Wollen darin steckt, in welche Richtung es strebt und zu welchen Handlungen es uns treibt, ändert sich die Energie in unserem Körper. Die lähmende Angst weicht – zumindest ein Stück weit – einer Tatkraft und Entschlossenheit. Und das fühlt sich ganz anders an!
Viele Menschen vollziehen diesen Prozess intuitiv. So erklärt sich die riesige Hilfsbereitschaft, die zurzeit überall zu beobachten ist und dazu führt, dass einige spontan ins Auto steigen, um Flüchtlinge an der Grenze abzuholen.
Ein gewisses Maß an Angst bleibt allerdings immer. Sie steckt in unseren Genen und hält uns wachsam. Was auch bleibt, ist ein Gefühl absoluter Unerträglichkeit angesichts dessen, was gerade geschieht.
Führen wir unsere „Angststimmung“ jedoch durch den oben beschriebenen Prozess, lähmt sie uns nicht mehr ganz so sehr und wir sind ihr nicht mehr völlig ausgeliefert. So werden wir handlungsfähiger und können angemessener auf das reagieren, was in dieser Welt nicht stimmt.
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