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Die Geschichte der "Treasure Maps" -

bis heute

Ann Weiser Cornell

Erschienen in The Focusing Connection, November 1997

(Ins Deutsche übertragen von Arno Katz) 

Seit September 1994 befinden Barbara McGavin und ich uns auf einer bemerkenswerten Reise, welche tiefe innere Wandlung für jede von uns sowie atemberaubende theoretische Einsichten und eine tiefe Verbindung zu hunderten von Menschen auf ihrem Lebensweg ermöglicht hat. Wir nennen die Arbeit, die wir betreiben, „Treasure Maps to the Soul“.

 

 

Obwohl die Wurzeln weiter zurückreichen, begann für mich eigentlich alles im Sommer 1994, als Barbara mir einen Artikel mit dem Titel „Das ‚Opfer‘, der ‚Kritiker‘ und die Innere Beziehung: Focusing mit dem Teil, der sterben will“ (abgedruckt in diesem Buch) zur Veröffentlichung in The Focusing Connection zusandte. Es handelt sich um einen beeindruckenden Artikel und obwohl man vielleicht sagen könnte, dass ich schon „wusste“, was darin stand, entwickelte Barbara den Umgang mit der inneren Beziehung zu einer solch außergewöhnlichen Tiefe und Schönheit, dass ich spürte, wie sich meine eigene Arbeit zu verändern begann. Ich verinnerlichte allmählich die Auffassung, dass allem in uns mitfühlend zugehört werden kann – und dass die Teile, die am Hässlichsten aussehen, es am Nötigsten brauchen, dass man ihnen zuhört.

 

 

Wenig ahnte ich da, dass meine eigene Fähigkeit zum Mitgefühl für mich selbst sehr bald vor die größte Herausforderung meines Lebens gestellt werden würde. Am 15. September 1994 besichtigte ich Glastonbury in England und durch eine Reihe von Einsichten an den dortigen heiligen Stätten wurde ich zu der Erkenntnis geführt, dass der Art und Weise, in der ich mit Alkohol umgegangen war, ein Muster der Abhängigkeit zugrunde lag und dass ich aufhören musste.

 

 

Die emotionale Wirkung hiervon war so, als wäre ich mit dem Gefühl, meinen besten Freund verloren zu haben, in eine eiskalte Badewanne geworfen worden. Glücklicherweise hatten Barbara und ich geplant, mehrere Focusing-Workshops zusammen zu geben, so dass eine meiner liebsten Focusing-Partnerinnen da war, als ich sie brauchte. Ich brauchte in der Tat Hilfe dabei, mitfühlend dem Teil von mir zuzuhören, der immer noch trinken wollte. Ich schämte mich seiner und ich wollte ihn lieber unter dem nächsten Stein vergraben. Wir nutzten jeden freien Moment, um uns gegenseitig beim Focusing zu begleiten, und Barbara arbeitete ebenfalls an schwierigen Bereichen ihres Lebens.

 

 

Etwas Interessantes geschah – wir begannen, Muster zu erkennen. Nach jeder Sitzung zückten wir unsere Notizbücher und skizzierten die theoretischen Verbindungen, die wir erarbeitetet hatten. Und obwohl sich unsere Einsichten zu roh und persönlich anfühlten, um sie leicht mit anderen zu teilen, stellten die Leute in den Workshops Fragen, die nur beantwortet werden konnten, indem wir in den Zauberkessel mit neuem Material griffen, das sich gerade formte.

 

 

An diesem Punkt war eine Schlüsselerkenntnis unverkennbar: Schwierige, verhasste Bereiche des Lebens, wie Sucht oder Depression, stellen nicht einfach nur Probleme dar, die gelöst werden müssen. In Wahrheit führen sie zu einem Schatz. Sie sind Wegweiser, Anzeichen dafür, dass etwas Wertvolles und Positives versteckt liegt und darauf wartet, in die Ganzheit zurückzukehren. Sie so zu betrachten ergab eine ganz neue Sicht der inneren Arbeit. Das war der Augenblick, als wir begannen, den Begriff „Treasure Maps to the Soul“ zu verwenden.

 

 

In den Monaten danach, wieder zu Hause in Kalifornien und England, fingen wir an, eine Kapitelübersicht für ein Buch zu schreiben. Es war meine dichterisch begabte Kollegin Barbara, so weit ich mich erinnere, die damit begann, schwierigen Lebensbereichen metaphorische Namen zu geben. Die meisten dieser Namen haben unverändert Bestand gehalten bis in unsere heutige Arbeit: „der Drache“ für den Kritiker, „der Nebel“ für Verwirrung, „der Sumpf“ für Handlungsblockaden und „die Grube“ für Depression.

 

 

Es war genau zu diesem Zeitpunkt, als New Harbinger Publications mich bat, ein Buch über Focusing zu verfassen, also legten Barbara und ich das Treasure-Maps-Buch auf Eis, während ich Focusing – Der Stimme des Körpers folgen schrieb (mit ihrer Hilfe).

 

 

Im August 1995 verbrachten Barbara und ich neun Tage zusammen ohne irgendetwas auf dem Programm außer Focusing, Gedankenaustausch, Unterhaltungen und Mind-Mapping. In dieser Zeit wurde der Bereich der Süchte „die Wildnis“ getauft und aus unerfüllten Wünschen wurde „die Bergspitze“. Das Wichtigste aber war, dass wir erkannten, dass es drei bedeutsame Prozesse gab, die unserer ganzen Treasure-Maps-Arbeit zugrunde lagen. Es handelte sich um Prozesse, welche man beim Focusing findet, die jedoch in den „Treasure Maps“ genauer und deutlicher auf den Punkt gebracht wurden. Wir nannten diese die „drei Aspekte der Magie“: die Innere Beziehung, Es aushalten und das Wollen. (Inzwischen wissen wir, dass alle drei zusammen arbeiten und sich zu einem kraftvollen Wandlungsprozess verbinden, den wir die „alchimistische Hochzeit“ nennen.)

 

 

Seit jener Zeit geben wir Workshops zu den „Treasure Maps“ in verschiedenen Teilen der Welt, gemeinsam, falls möglich, getrennt, falls nötig. Jedes Mal, wenn wir zusammen lehren, wächst das Material der „Treasure Maps“. Wir fügten „den Fluss“ hinzu, um dem schwierigen Bereich der überwältigenden Emotionen, welche einen hinweg spülen können, Ausdruck zu verleihen, und stellten dann fest, dass Flüsse auch versiegen können und dass zu wenig Emotion ebenfalls eine „Treasure Map“ darstellt. Wir fügten „den Rand der Klippe“ hinzu, weil es etwas geben sollte, das Angst und Aufregung ausdrückt, und wir bemerkten schließlich, dass wir eigentlich ausweglose Situationen meinten, die sich so anfühlen, als könne man sich weder vorwärts noch zurück bewegen, obwohl ein Gefühl der Dringlichkeit vorherrscht, dass eigentlich etwas geschehen müsste.

 

 

Da wir sehr unterschiedlich sind, basiert unsere Zusammenarbeit darauf, dass wir uns gegenseitig ergänzen. Barbara ist häufig diejenige, die Konzepte erfasst, lange bevor sie artikuliert werden können. Ich bin langsamer, wenn jedoch einmal bei mir der Groschen gefallen ist, kann ich sie gewöhnlich auf eine Art und Weise ausdrücken, dass auch andere sie verstehen. Als ich beispielsweise im August 1996 in England ankam, verkündete Barbara: „Der Rand der Klippe ist Teil der Magie.“ „Was meinst du damit?“, fragte ich verwundert. „Ich kann es noch nicht erklären“, entgegnete sie, „Ich weiß einfach, dass es so ist.“ Zwei Wochen später, während ich in einem anderen Land einen Workshop gab, wachte ich mitten in der Nacht auf. „Oh! Der Rand der Klippe ist Teil der Magie!“ Endlich verstand ich es. Inzwischen lehren wir es auf die oben genannte Weise und „der Rand der Klippe“ entwickelt sich weiter.

 

 

Wie unterscheiden sich die „Treasure Maps“ vom herkömmlichen Focusing? Natürlich hilft einem auch Focusing dabei, den Schatz in schwierigen Lebensbereichen zu bergen. Die Arbeit mit den „Treasure Maps“ bringt ihn jedoch klar und deutlich ans Tageslicht. Wir haben typische Teile identifiziert, die man in jedem einzelnen der Bereiche findet, und wir haben Prozesse (oder „Protokolle“) entwickelt, wie man mit diesen Teilen arbeitet. Wir verfügen über ein Modell darüber, wie natürlicher Wandel und natürliches Wachstum („der Rand“) ablaufen und haben eine Metapher für das, was sich in den Weg stellt („die Amöbe und die Plätzchen-Ausstechform“). Wir verfügen ebenfalls über eine schrittweise Methode, um „den Drachen“ (Innerer Kritiker) in einen visionären Liebhaber zu verwandeln. Allein die Arbeit an Süchten ist revolutionär. Stellen Sie sich einmal vor, wie Sie den Teil, der trinken (rauchen, fernsehen) will, fragen, zu welchem positiven Gefühl er Ihnen verhelfen möchte.

 

 

Auch andere Menschen haben zur Entwicklung der „Treasure Maps“ beigetragen. Alle unsere Schüler und Kollegen, die an unseren Workshops teilgenommen haben, haben Spuren in unserem Denken hinterlassen, der einflussreichste war jedoch möglicherweise Larry Letich, der fünf Ebenen „der Grube“ (der Depression) identifiziert hat und herausfand, wie diese mit „der Wildnis“ (der Sucht) in Verbindung stehen.

 

 

 

Nachwort zu

 

Die Geschichte der „Treasure Maps“ – bis heute

 

 

Während ich diesen Artikel heute, sieben Jahre später, lese, fallen mir folgende Sätze auf: „Ich brauchte in der Tat Hilfe dabei, mitfühlend dem Teil von mir zuzuhören, der immer noch trinken wollte. Ich schämte mich seiner und ich wollte ihn lieber unter dem nächsten Stein vergraben.“ Sehen Sie, was ich sehe?

 

 

Richtig! Es existiert ein nicht anerkannter Teil. Der Teil von mir, der weiter trinken will, wird anerkannt, der Teil von mir jedoch, der sich für diesen schämte und der ihn „unter dem nächsten Stein vergraben“ wollte, befindet sich in identifizierter Position. Ich hatte geschrieben „Ich will ihn unter einem Stein vergraben“ anstatt „Etwas in mir will ihn unter einem Stein vergraben“. Obwohl Disidentifikation das zentrale Thema unserer Arbeit mit den „Treasure Maps“ ist und obwohl wir diese zu dem Zeitpunkt, als ich den Artikel schrieb, bereits drei Jahre betrieben hatten, fiel mir die Identifikation in dem, was ich geschrieben hatte, nicht auf. Diese Tatsache verdeutlicht für mich, wie weit sich die „Treasure Maps to the Soul“ in den sieben Jahren entwickelt haben, seit der Artikel 1997 geschrieben wurde, und wie viel Klarheit Barbara und ich seitdem gewonnen haben. (Außerdem veranschaulicht sie, wie schwer es sein kann, seinen eigenen Identifikationen auf die Schliche zu kommen!) Seit 1996 geben wir drei oder vier Mal pro Jahr einwöchige Workshops zu den „Treasure Maps“ und jedes Mal, wenn wir lehren, vertieft sich der Prozess und wir lernen enorm viel dazu. Wir hoffen, eines Tages ein Buch darüber zu schreiben – falls der Prozess jemals zum Stillstand kommt!

 

 

Der womöglich größte Sprung vorwärts hat sich beim Konzept der Präsenz ergeben. (Wenn mir Präsenz bekannt gewesen wäre, als ich den Artikel schrieb, hätte ich es vermutlich nicht versäumt, den Teil, der etwas unter einem Stein vergraben will, anzuerkennen.) Wir haben das Wort „Präsenz“ aus den Schriften John Welwoods übernommen und entschuldigen uns dafür, dass wir es nicht auf genau dieselbe Weise verwenden wie er. Als Präsenz etwa 1998 zur Theorie der „Treasure Maps“ hinzukam, öffnete sich der ganze Prozess, er wurde einfacher und auch einfacher zu verstehen.

 

 

Im Jahre 1999 änderten wir einige wichtige Formulierungen. Wir begannen das, was wir „die Magie“ genannt hatten, als „die Kräfte“ zu bezeichnen. Die „Magie der inneren Beziehung“ wurde „die Kraft der Präsenz“. „Die Magie des Es-Aushaltens“ wurde „die Kraft des Und“. „Die Magie des Wollens“ wurde „die Kraft des Nicht-Wollens/ Wollens“. Über eine „Kraft“ zu verfügen heißt, eine Fähigkeit zu besitzen, eine Fähigkeit, die angewandt und geübt werden und wachsen kann. Dies entspricht eher der Realität als die Bezeichnung „Magie“. Die Ergebnisse mögen einem magisch vorkommen, die Fähigkeiten selbst sind es jedoch nicht. Diese liegen durchaus im Bereich des Menschenmöglichen.

 

 

Beim Konzept des Inneren Kritikers, welchen wir „den Drachen“ nannten, ist es ebenfalls zu einer deutlichen Weiterentwicklung gekommen. Anfangs war uns nicht bewusst, dass „der Drache“ einen Gegenspieler hatte, dass immer dann, wenn ein Teil existiert, der kritisiert, es auch einen Teil gibt, der kritisiert wird. Wir erkannten dies allmählich, als und dadurch dass das Konzept der Präsenz hinzukam. In Präsenz würde man sich nie kritisiert fühlen, also musste der Innere Kritiker nicht mich, sondern etwas in mir kritisieren. Unsere Erkenntnisse erweiterten sich, als wir begannen, von „Kontrolleuren“ anstatt von Kritikern zu sprechen, und als wir anfingen, die Eigenart dieser interessanten Schlüssel-Dynamik zu verstehen. (Siehe „Radikales Sanftsein“ in diesem Buch, um mehr darüber zu erfahren.)

 

 

Die Kraft des Nicht-Wollens/ Wollens hat sich dadurch stark weiterentwickelt, dass wir lernten, eine Einladung an das Nicht-Wollen und später an das Wollen zu formulieren (2001), um jeder Seite eines inneren Konfliktes dabei zu helfen, die ihr innewohnende Lebendigkeit freizulegen. Wir sahen bei jedem, mit dem wir arbeiteten, dass jeder Teil, gleichgültig wie hässlich oder gefährlich er anfangs erschien, eine positive, das Leben vorantreibende Energie enthielt, welche einen Beitrag zum gesamten Leben der Person leistete. Wie aufregend: Es handelte sich nicht einfach nur um eine Theorie! Es bewahrheitete sich in der Praxis, immer und immer wieder.

 

 

Unser möglicherweise größter Durchbruch bestand in einem besseren Verständnis der Ursachen schwerer Lebensprobleme als Resultat von Traumatisierungen. Indem wir Autoren wie Peter Levine mit Gene Gendlin verbanden, entwickelten wir ein Modell, was geschieht, wenn ein sich vorwärts bewegender Organismus auf ein dauerhaft unlösbares Problem trifft, was das Wesen eines Traumas darstellt.

 

 

Im Jahre 2004 entdeckten wir die Arbeit Richard Schwartz‘ zur „Systemischen Therapie mit der inneren Familie“. Es gab erstaunliche Gemeinsamkeiten mit dem, was wir bereits entwickelt hatten, und wir spürten, dass wir eine verwandte Seele gefunden hatten. Schwartz‘ Schriften halfen uns, deutlicher als zuvor zwischen einem reaktionsfreudigen Teil zu unterscheiden, dem die Folgen seines Handelns gleichgültig zu sein scheinen, und einem traumatisierten Teil, dessen unverheilter Schmerz die Quelle und den Grund für das außer Kontrolle geratene Verhalten des reaktionsfreudigen Teils liefert. Sein Konzept des Selbst unterschied sich interessanterweise von Präsenz. Wir fanden es in vielerlei Hinsicht äußerst hilfreich und haben begonnen, mit Dank an ihn, das Selbst zu thematisieren.

 

 

Wir haben jedoch nicht Schwartz‘ Methodologie übernommen und es gibt nach wie vor beachtenswerte Unterschiede zwischen unserer Sicht und der seinen. Der Dialog wird fortgesetzt, ebenso wie die Weiterentwicklung der Arbeit, die wir „Treasure Maps to the Soul“ nennen.

Ann Weiser Cornell und Barbara McGavin

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