Um der eigenartigen Mischung aus Faszination und Ablehnung nachzugehen, die ich für Eckhart Tolles Lehre empfinde, habe ich mich für einen achtwöchigen Online-Kurs von Tolle angemeldet. Der Kurs, der 300 Dollar kostet und der erste seiner Art ist, den Tolle gibt, besteht überwiegend aus Filmaufnahmen von seinen Retreats, enthält aber auch eigens aufgenommene Videos und drei Live-Sitzungen. Schon nach der zweiten Woche ist mir klar geworden, was mich so ungeheuer an diesem spirituellen Ansatz stört und warum ich mich nicht weiter mit ihm beschäftigen werde, wenn der Kurs vorbei ist.
Auslöser für diese frühe Erkenntnis war ein Video von einem Seminar, in dem sich eine junge Teilnehmerin hilfesuchend an Tolle wendet: Sie sei alleinerziehend, habe drei Söhne und manchmal verliere sie einfach die Nerven, wenn ihr die Kinder auf der Nase herumtanzen, und dann schreie sie diese an. Anschließend, wenn der Ärger abgeklungen sei, habe sie ein schlechtes Gewissen.
Ich war mir ziemlich sicher, welchen Rat ihr Tolle geben würde, noch bevor er seinen Mund öffnete, und, siehe da, genau dieser Rat wurde der jungen Mutter dann auch zuteil: Sie solle mit dem Ärger in Präsenz gehen, möglichst noch, während er aufkommt, und ihn einfach wahrnehmen, ohne ihn zu bekämpfen. Ähnlich solle sie mit ihrem schlechten Gewissen verfahren. Das sei ihr spiritueller Weg, viel besser, als Jahre in einem Kloster zu verbringen. Sie sei Teil eines neu erwachenden Bewusstseins im Universum und ihre Herausforderungen im Leben böten ihr die Möglichkeit, spirituell zu wachsen.
So einen ähnlichen Rat würde ich als Focusing Trainer vermutlich auch geben, ohne allerdings die spirituelle Dimension anzusprechen, was stört mich also daran?
Bei Tolle ist das schon alles! Es bleibt einfach bei dem Tipp, immer wieder in Präsenz zu sein. Im Wesen SEI der Mensch seine Präsenz, sein wahrnehmendes Bewusstsein.
Im Focusing passiert darüber hinaus noch mehr, viel mehr! Aus der Präsenz heraus wenden wir uns dem inneren Erleben zu, das nach unserer Aufmerksamkeit schreit. Im Falle der jungen Mutter also dem in ihr, was ärgerlich wird, wenn ihre Kinder ihr das Leben schwer machen, und auch dem, was anschließend ein schlechtes Gewissen bekommt. Das könnte anfangs etwa so klingen:
"Ich spüre etwas in mir, das sich wahnsinnig über meine Kinder ärgert, UND ich spüre etwas in mir, das sich dafür schämt. Ich begrüße beides. Beides ist da."
Dem würde anschließend ein innerer Prozess folgen, in dem sich die junge Mutter beiden Anteilen zuwendet, um sie zu erforschen und besser kennen zu lernen.
Das ist genau die Zuwendung, die diese inneren Anteile brauchen, die sie nie bekommen haben, weder von anderen Menschen noch von der Person selbst! Es ist der Mangel an solcher Zuwendung, der überhaupt erst dazu geführt hat, dass die Anteile entstanden sind, dass sie so geworden sind, wie sie sind. Wenn sie endlich, endlich Zuwendung bekommen, können sie weicher werden und sich verwandeln. Und das fühlt sich gut an! Zuwendung aus der Präsenz heraus ist der Schlüssel zur Heilung - sowohl Zuwendung durch andere Menschen als auch Zuwendung zu unserem eigenen inneren Leiden.
Diese Zuwendung fehlt völlig bei Tolle. Weder leitet er Menschen dazu an, sich innerlich ihrem Erleben zuzuwenden, noch wendet er sich selbst dem Schmerz der Menschen zu. Er könnte auch zu der Mutter sagen: "Wie schwierig muss es sein, alleine drei Jungen groß zu ziehen", aber das tut er nicht! Er lehrt lediglich Präsenz. Den Rest bezeichnet er als "Schmerzkörper" und "Ego", von denen es sich zu disidentifizieren gilt.
Ich halte dem entgegen: Die Phänomene "Schmerzkörper" und "Ego" entstehen genau dadurch, dass man sich jahrelang NICHT seinem Erleben zuwendet. Durch diesen Mangel an innerer Beziehung werden Teile unserer selbst immer verzweifelter und schmerzerfüllter und schreien immer lauter nach unserer Aufmerksamkeit. Und dann werden sie auch noch als "Schmerzkörper" und "Ego" abgestempelt.
Aus Focusing-Sicht SIND wir unserer Körper. Und Präsenz ist nur eine Funktion des Körpers, die dazu dient, sich selbst zuzuwenden. Jeder, der Focusing betreibt, weiß, wie viel Reichtum in unserem Körper steckt und dass sich aus unserem körperlichen Felt Sense ein Schritt in die richtige Richtung entwickeln kann, wenn wir uns ihm zuwenden. All das versteht Tolle nicht - vermutlich, weil er es selbst nie erlebt hat, zumindest nicht bewusst.
Für mich ganz persönlich heißt das im Klartext: Ich folge lieber meinen körperlichen Felt Senses als Eckhart Tolle!
Mich interessiert, welche Erfahrung Sie mit Eckhart Tolle gemacht haben und was Sie von dem halten, was ich hier geschrieben habe. Wenn Sie mir eine E-Mail schreiben, antworte ich Ihnen. Versprochen!
Lesen Sie auch einen früheren Beitrag von mir, in dem ich mich mit Eckhart Tolle auseinandersetze:
Hören Sie sich auch das folgende Gespräch über Eckhart Tolle aus einem meiner Seminare an:
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