Online Focusing lernen
Mein Focusing-Weg
Mitte der 90er Jahre habe ich zum ersten Mal von Focusing gehört. Damals besuchte ich im Rahmen meines Lehramtsstudiums Pädagogik- und Psychologieseminare und in einem dieser Seminare erzählte einer meiner Professoren, Prof. Dr. Höger, etwas über das klientenzentrierte Konzept von Carl Rogers. (Höger setzt sich bis heute für dessen Verbreitung ein.) Ich spürte sofort, dass dieses eine Lebenseinstellung und ein Menschenbild verkörpert, mit dem ich – im Gegensatz zur Psychoanalyse – sehr viel anfangen konnte. Die Erkenntnisse Rogers‘ haben seitdem eine wichtige Rolle für mich gespielt – nicht nur für mein Studium, sondern auch für die Art und Weise, wie ich in der Welt stehe und anderen Menschen begegne. Auch heute noch würde ich sagen, dass Rogers‘ Erkenntnisse bahnbrechender und „größer“ sind als die Focusing-Lehre.
Ich kann mich noch sehr genau erinnern, wie ich vor einem Semesterapparat mit Literatur von und über Rogers gestanden habe und mir Gendlins Buch Focusing in die Hände fiel. Da es nicht ausleihbar war, kopierte ich es mir und las es zu Hause durch. Wie faszinierend! Das war genau das, wonach ich gesucht hatte! Ich probierte Gendlins Sechs-Schritte-Methode aus, und siehe da, es funktionierte, ich erlebte einen deutlichen Shift. (Ich saß damals auf einer Bank hinter dem Schwimmbad der Uni Bielefeld, wo ich studierte. Manchmal gehe ich an diesen Ort zurück.) Um die Wahrheit zu sagen: Danach funktionierte Focusing nicht mehr bei mir. Aber ich hatte zumindest einmal erlebt, dass an Focusing etwas dran ist, und das Wissen, dass es in mir etwas gibt, auf das ich mich beziehen kann, an dem ich mich festhalten kann, begleitete mich die folgenden Jahre.
Nach dem Ersten Staatsexamen im Jahre 1999 zog ich nach Spanien zu meiner damaligen Freundin, meiner heutigen Frau. Die Jahrtausendwende habe ich in Madrid gefeiert, auch für mich ein Lebensumbruch. 2001 kehrten wir gemeinsam nach Deutschland zurück und 2003 machte ich das Zweite Staatsexamen nach einem sehr anstrengenden und intensiven Referendariat. Im selben Jahr wurde unser Sohn Adrian geboren. 2004 wechselte ich vom Gymnasium an die Gesamtschule, eine der besten Entscheidungen meines Lebens, die ich „aus dem Bauch heraus“ traf. Ich wusste ja, dass man „dem Bauch vertrauen“ kann, dank meiner Focusing-Erfahrung Jahre zuvor. In diesen Jahren las ich mehrfach Gendlins Focusing und auch Dein Körper, dein Traumdeuter.
Im Jahre 2006, als meine Frau mit unserer Tochter Lara schwanger war, spürte ich eine Art „spirituelle Leere“ in mir. Irgendetwas fehlte in meinem Leben. Ich griff mir meine Focusing-Bücher und las sie erneut. Inzwischen gab es ja Amazon und so fand ich Ann Weiser Cornells The Power of Focusing. Und hui, die Art und Weise, wie Focusing dort dargestellt wurde, war ja viel organischer und weniger kompliziert. Ich verschlang das Buch mehrfach. Einmal bin ich sogar früher zur Schule gefahren, nur, um auf dem Weg anhalten und weiter lesen zu können.
2007 spürte ich dann, dass ich den Schritt hinaus in die Welt tun musste und meldete mich zu einem Einführungsseminar Focusing bei Michael Helmkamp vom DAF in Münster an. Das Seminar war ein voller Erfolg. Michael ist ein wunderbarer Focusing-Lehrer! Etwa zur selben Zeit fand ich die Webseite von Ann Weiser Cornell. Unter anderem entdeckte ich ihren Artikel „Radical Gentleness: The Transformation of the Inner Critic“. Was für ein Hammer! Hier stand alles drin, was beim Focusing wichtig ist. Kurz darauf besuchte ich ein Focusing-Einstiegsseminar von Johannes Wiltschko in Münster. Das Seminar war super. Besonders gut gefallen haben mir die vielen körperlichen Übungen. Bei einer Übung hatte ich ein überwältigendes Erlebnis körperlich gefühlter Präsenz (obwohl Johannes diesen Begriff nicht verwendet), die auch heute noch auffindbar ist. Allerdings unterrichtete Johannes den Umgang mit innerer Kritik völlig anders, als ich es aus Anns Artikel kannte. Johannes bezeichnete Innere Kritiker als „Vorgartenzwerge“ (großes Gelächter), den man keinen Glauben schenken sollte. Bei der Plenumsdiskussion stellte ich dann Anns Thesen vor und stieß bei einigen Seminarteilnehmern auf großes Interesse.
Kurz darauf bekam ich einen Newsletter von Focusing Resources. Darin stand, dass Ann Weiser Cornell bald in Europa unterrichten würde. Europa ist ja so groß. Schade! Aber dann las ich: Hamburg. Oh, das ist ja gar nicht so weit weg. Also meldete ich mich zum Seminar „Presence and Deep Healing“ an. In jener Zeit hatte ich eine Reihe (etwa 10) Focusing-Einzelsitzungen bei Gerlinde Heiming, einer DAF-Frau, die das Seminar von Johannes organisiert hatte.
Und dann kam das Seminar in Hamburg. Ich weiß noch, wie ich am Abend vorher das Hotelzimmer betrat und dachte: „Morgen lerne ich Ann Weiser Cornell kennen. Wie geil!“ Und am nächsten Tag lernte ich dann Ann Weiser Cornell kennen. Wie geil! In einer Pause sprach ich sie dann auf „Radical Gentleness“ an und bot ihr an, den Artikel ins Deutsche zu übersetzen. Sie war sofort einverstanden.
Die Übersetzung dauerte mit Unterbrechungen etwa fünf Wochen und machte sehr sehr viel Spaß. Ich entdeckte, dass es Focusing erfordert, einen Focusing-Text zu übersetzen. Auf der Suche nach den richtigen Worten sagt es irgendwann „Klick“ und man spürt, dass man die richtige Formulierung gefunden hat.
Als ich Ann den Artikel zumailte, fragte ich sie, ob ich auch noch andere Artikel von ihr übersetzen dürfe. Darauf antwortete sie, dass auch noch eine andere Teilnehmerin des Hamburger Seminars angeboten habe, ihr Buch The Radical Acceptance of Everything zu übersetzen – Karin Meyer. Karin und ich taten uns zusammen und entschieden, dass wir das Buch in etwa einem Jahr vollständig übersetzt haben wollten. (Inzwischen sind deutlich über zwei Jahre verstrichen. Der Prozess ist deutlich langsamer, als wir dachten, dafür ist das Ergebnis aber sehr gut. Meine Übersetzung von Anns Artikel zum Umgang mit dem Inneren Kritiker wurde mittlerweile im Focusing Journal veröffentlicht.)
Im Mai 2009 kam mir die Idee, eine nicht kommerzielle Webseite rund um das Thema Focusing zu machen. Eine solche Seite gab es bisher noch nicht im deutschen Sprachraum und die Seite (www.focusing.me) ist mittlerweile recht erfolgreich.
Über den ganzen Zeitraum hinweg hielt ich Kontakt zu Elmar Kruithoff, dem Organisator von Anns Seminar in Hamburg. Langsam reifte der Wunsch in mir, professionell in der Schule und anderswo mit Focusing zu arbeiten. Ich sprach Elmar darauf an und er schlug vor, dass ich die Ausbildung zum Focusing-Lehrer bei Ann und ihm machen könne, mit abschließender Zertifizierung durch das Focusing Institute New York. Außerdem schlug er vor, dass man ja auch an meiner Schule einen Focusing-Workshop durchführen könne.
Inzwischen bin ich Trainee bei Ann und Elmar und der Workshop in der Schule steht kurz vor seiner Durchführung. Meine Schulleitung steht dem Projekt sehr positiv gegenüber und unterstützt mich finanziell. Es ist sehr deutlich geworden, dass es im Bereich Schule einen großen Bedarf gibt für das, was Focusing zu bieten hat, aber keine entsprechenden Angebote. Hat Focusing das Potential, dieses Vakuum zu füllen? Das Interesse ist sehr groß und geht weit über meine Schule hinaus. Elmar und ich werden die Möglichkeiten ausloten…
Wo stehe ich nun ganz persönlich? Welchen Unterschied macht Focusing in meinem eigenen Leben? Hier der wichtigste: Ich bin in der Lage, jederzeit „in Präsenz“ gegenüber dem zu gehen, was ich innerlich erlebe. Und das ist ein riesen Unterschied zu vorher. Egal was passiert, ICH bin innerlich dabei. ICH gehe nicht mehr in meinen Emotionen und Körperempfindungen verloren so wie früher. Das ist das Wichtigste, das alles Entscheidende! Manchmal vergesse ich, dass es Präsenz gibt und bin innerlich identifiziert, aber wenn mir das bewusst wird, komme ich sofort wieder in Präsenz. Vor allem bei schwierigen Situationen in der Schule ist das sehr nützlich.
Ich habe zwei langfristige Focusing-Partnerinnen, eine aus der Hamburger Gruppe und eine Amerikanerin, die ich im Telefonseminar Level 4 bei Ann kennen gelernt habe. Beide Partnerschaften sind sehr gewinnbringend und helfen mir und meinen Partnerinnen, wichtige Lebensthemen zu bearbeiten. Ich merke, dass durch meine ganze innere Arbeit meine Empathie für andere Menschen viel größer geworden ist, und ich vermute, dass meine Schülerinnen und Schüler das wahrnehmen. In der Schule habe ich kaum Konflikte auf der Beziehungsebene.
Fazit: Ich spüre große Zuversicht, dass ich mit allem im Leben klar kommen werde. Und es geht weiter…