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Leben mit Focusing
"Leben mit Focusing" ("Living a Focusing Life") ist der Versuch, Focusing in das alltägliche Leben zu integrieren - und zwar auch außerhalb von sogenannten "Focusing-Sitzungen". Einige grundsätzliche Gedanken dazu stellt Ann Weiser Cornell in dem folgenden Ausschnitt aus einem Interview an, das Elmar Kruithoff vom Focusing Kompetenz Zentrum mit ihr führte und das von mir transkribiert und übersetzt wurde.
Kern dabei ist das Konzept des "Selbst in Präsenz". Gemeint ist ein innerer Zustand, in dem es möglich ist, mit interessierter Neugier bei seinem inneren Erleben zu sein, es zu spüren, es da sein zu lassen, ihm zuzuhören, ohne sich damit zu identifizieren und ohne es zu verleugnen. Ist es möglich, zu einem inneren Erleben, beispielsweise einer Traurigkeit, zu sagen: "Ich spüre, dass du da bist. Du darfst so lange da sein, wie du das brauchst, und ich leiste dir einfach nur Gesellschaft und höre dir zu", dann befindet man sich im Zustand des "Selbst in Präsenz". Wenn sich jedoch etwas meldet, wie etwa "Ich will aber nicht traurig sein", dann ist man mit einem inneren Etwas identifiziert, das die Traurigkeit ablehnt. Der Weg zurück zum "Selbst in Präsenz" besteht darin, auch dieses Etwas anzuerkennen: "Ich spüre etwas in mir, das traurig ist, und ich spüre auch etwas in mir, das die Traurigkeit ablehnt."
"Leben mit Focusing" bedeutet also, im Alltag immer wieder "Präsenz" gegenüber seinem Erleben zu suchen und es anzuerkennen, einschließlich der inneren Anteile, die miteinander im Konflikt stehen.
Ann Weiser Cornell: "Leben mit Focusing" (Übersetzung Transkription)
Ann: „Was ich sage ist, dass ‚Leben mit Focusing‘ im Grunde bedeutet, als ‚Selbst in Präsenz‘ zu leben – die ganze Zeit. Warum nicht? Warum nicht die ganze Zeit? Das Leben hat ja seine Höhen und Tiefen. Wir werden kaum die ganze Zeit glücklich sein. Aber ‚Selbst in Präsenz‘ ist kein Zustand der Glückseligkeit. Man kann tiefen Schmerz empfinden und ‚Selbst in Präsenz‘ sein. Es bedeutet, in der Lage zu sein, das ganze Selbst zur Verfügung zu haben, sich selbst ein Freund zu sein und jenen Aspekten von sich, die noch aus früheren Zeiten stammen, ein sanftes, umsorgendes Dabeisein entgegen zu bringen. Wenn wir also in einer Situation blind reagieren, wenn wir unverhältnismäßig emotional, unverhältnismäßig wütend usw. werden, handelt es sich dabei um Anteile des Selbst aus früheren Zeiten. Wenn ich mich jedoch nicht damit identifiziere, sondern wenn ich an Stelle dessen ‚Selbst in Präsenz‘ bin, dann können jene Teile meines Selbst umsorgt werden. Wenn ich sie stattdessen wegschieben würde, was ich vielleicht tun musste, bevor ich mehr ‚Selbst in Präsenz‘ entwickelte, wenn ich diese Seiten von mir wegschiebe, die mir Ärger oder kritische Reaktionen von anderen Menschen eingehandelt haben, dann identifiziere ich mich schlicht und ergreifend mit einem anderen Teil von mir und ich bin wieder weniger als mein ganzes Selbst. Der Weg also, um Zugriff auf all das zu haben, was ich bin, und um von dort aus wirklich weiter zu wachsen und all meine Möglichkeiten auszuschöpfen, ist ‚Selbst in Präsenz‘ zu sein. Und das ist ‚Leben mit Focusing‘.“