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Carl Rogers

und das

klientenzentrierte Konzept

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Arno Katz

geschrieben 1999

veröffentlicht auf www.focusing.me

(September 2009)

Der Begründer Carl Rogers

 

 

Es existieren zwei Rogers-Biographien. Die eine, verfasst von Kirschenbaum (1979), sieht Rogers eher im positiven Licht, die andere, Cohen (1997), sieht ihn eher negativ, bezeichnet ihn als „muddled person“ (ebd.: 19). Außerdem existieren einige biographische Darstellungen von Rogers selbst, in denen er ganz subjektiv sein Leben beschreibt und auch seine Schwächen nicht verschweigt. Die „Wahrheit“ liegt vermutlich irgendwo zwischen diesen Schriften. Im Folgenden werde ich mich bemühen, ein möglichst neutrales Bild der Person Carl Rogers zu zeichnen, ein Bild, dem Kirschenbaum, Cohen und auch Rogers selbst zustimmen dürften.

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Carl Rogers wurde am achten Januar 1902 als viertes von sechs Kindern in Oak Park, einem Vorort Chicagos, geboren. Seine Eltern waren fromme Christen, die versuchten, ihre Kinder im „rechten Glauben“, das heißt nach den tradierten Familienwerten, zu erziehen. Die Atmosphäre in seinem Elternhaus bezeichnet Rogers als „kompromisslos religiös und ethisch“ (199410: 21). Kohlensäurehaltige Getränke hatten einen sündigen Beigeschmack (ebd.). Harter Arbeit wurde ein großer Stellenwert beigemessen, und von den Kindern wurde erwartet, dass sie sich an den täglich anfallenden Hausarbeiten beteiligen. Ansonsten bezeichnet Rogers seine Eltern als „liebevoll“, kritisiert jedoch, dass alle Bereiche des Lebens streng kontrolliert wurden (1967: 344). Er selbst sah sich als „ziemlich alleinstehender Junge, der ununterbrochen las“ (199410: 21). Als er zwölf Jahre alt war, kauften seine Eltern, durch harte Arbeit und eine gut laufende Traktoren–Firma an etwas Geld gekommen, eine Farm westlich von Chicago. Für diesen Kauf nimmt Rogers zwei Gründe an: zum einen die Vorliebe seiner Eltern für die Landwirtschaft, zum anderen deren Befürchtung, ihre Kinder könnten den „Versuchungen“ des Großstadtlebens erliegen (1967: 346). Hier kam er in einen ersten Kontakt mit der Wissenschaft. Sein Vater wollte die Farm auf die bestmögliche Weise führen. Er konsultierte wissenschaftliche Berater für die Viehzucht und schaffte Bücher zum Thema Landwirtschaft an, welche von seinem Sohn verschlungen wurden. Zum ersten Mal hörte dieser von der Wichtigkeit von Experimenten, Kontrollgruppen, der Änderung nur einer Variable beim Experimentieren etc. 

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Rogers war ein unauffälliger, überdurchschnittlich guter Schüler, der sich mit seinen Klassenkameraden verstand, diese jedoch nicht näher kennenlernte, da seine Eltern von ihm erwarteten, dass er direkt nach der Schule nach Hause kommen sollte. Dieser Umstand wurde von ihm jedoch nicht als negativ empfunden „ [...] there was always family at home“ (ebd.: 347). Sein Studium begann er an der Universität von Wisconsin im Bereich der Agrarwissenschaft. Während der ersten zwei Jahre wechselte er sein Fach, gab Agrarwissenschaft auf und schrieb sich für Theologie und Geschichte ein. In diesen Jahren lernte er Helen Eliot kennen, seine spätere Frau, und verliebte sich in sie. Ihre „helfende Liebe“ und ihr „Dabeisein während all der Jahre“ seien ein wichtiger und bereichernder Faktor in seinem Leben gewesen (199410: 23). 1922, in seinem vorletzten Unterrichtsjahr, wurde er als einer von zehn Studenten ausgewählt, sein Land bei der World Student Christian Federation Conference in Peking zu vertreten. Gespräche mit anderen Jugendlichen, die intellektuelle Stimulation des gegenseitigen Austauschs, führten allmählich zu einer Liberalisierung seiner religiösen Ansichten. Rogers beschreibt den Wandel, der sich in ihm vollzogen hat, wie folgt:

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"Due to this six months´ trip I had been able freely, and with no sense of defiance or guilt, to think my own thoughts, come to my own conclusions, and to take the stands I believe in. This process had achieved a real direction and assurance – which never afterwards wavered – before I had any inkling that it constituted rebellion from home. From the date of this trip my goals, values, aims, and philosophy have been my own and very divergent from the views which my parents held and which I had held up to this point. Psychologically, it was a most important period of declaring my independence from my family."  (1967: 351)

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Im selben Jahr verlobte Rogers sich mit Helen, „an event which made me exstatically happy“ (ebd.: 352). Zwei Jahre später, im Juni 1924, wurde ihm der „bacherlor´s degree“ in Geschichte verliehen. Im August heirateten Helen und Carl.

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Zu dieser Zeit fing Rogers an, sich für Psychologie zu interessieren. Er hatte bereits an einigen Vorlesungen im Union Theological Seminar teilgenommen, die er sehr stimulierend fand. Er bewarb sich für ein Stipendium, bekam es auch, und zog mit seiner Frau nach New York. Dort, in einem Seminar von Goodwin Watson und Joseph Classell, kam er zum ersten Mal in Kontakt mit klinischer Psychologie. Die Arbeit faszinierte ihn. Im zweiten Jahr machte er eine wichtige Lernerfahrung. Eine Gruppe Studenten, zu denen er gehörte, hatte den Eindruck, dass sie mit Ideen und Vorstellungen „gefüttert“ würden, dass es keine Möglichkeit gäbe, diejenigen religiösen und philosophischen Fragen zu diskutieren, die ihnen wichtig erschienen. Sie beantragten also, einen Kurs abhalten zu dürfen, in dem es keinen Dozenten geben sollte, der von ihnen selbst gestaltet würde, und der sich nur ihren eigenen Fragen widmen sollte. Zu ihrem Erstaunen wurde der Wunsch gewährt. Dieses Seminar erlebte Rogers als zutiefst befriedigend. Es sollte richtungsweisend sein für seine zukünftige Entwicklung: „This seminar was deeply satisfying and clarifying. It moved me a long way toward a philosophy of life which was my own“ (ebd.: 354). Langsam löste er sich von seinem Interesse für Religion. Ein unwiderruflicher Wandel hatte eingesetzt (ebd.: 354f.).

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Unter Leta Hollingworth, einer klinischen Psychologin, arbeitete Rogers zum ersten Mal mit Kindern aus problembeladenen Familien. Am Ende seines zweiten Jahres entschied er, sich ganz dem klinischen Bereich zu widmen und wechselte zum Teacher´s College. Dort promovierte er später auch.

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Helens und Carls erstes Kind, David, wurde 1926 geboren.

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"We endeavored to raise him ´by the book´ of Watsonian behaviorism, strict scheduling, and the like. Fortunately, Helen had enough common sense to make a good mother in spite of all this damaging psychological ´knowledge´."  (ebd.: 356)

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Gegen Ende 1926 bewarb sich Rogers am Institute of Child Guidance, das gerade errichtet wurde, ein für ihn sehr interessanter Arbeitsbereich. Er bekam die Stelle, die mit 2500 Dollar jährlich ausgeschrieben war; kurz vor Antritt erhielt er jedoch einen Brief, in dem stand, dass der Verwaltung ein Fehler unterlaufen sei. Nur Psychiater bekämen 2500 Dollar, er, da er nur Psychologe sei, verdiene auch nur 1200. Rogers protestierte, wies darauf hin, dass ihm die Stelle mit dem zuerst genannten Gehalt bereits zugesichert worden war und dass er das Geld brauche, um seine kleine Familie zu ernähren. Cohen kommentiert diese Episode wie folgt:

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"It does not seem to have bothered him that he would be getting paid twice as much as the other psychology graduates at the Institute. He also doesn´t seem to have realized that in making such an issue of it, he would make enemies."  (1997: 54)

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Hätte es ihn stören sollen? Hier stellt sich die Frage, ob man versteht, dass ein junger Familienvater möglichst viel Geld herauszuschlagen versucht oder nicht. 

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Die Jahre 1927 und 1928 waren sehr anregend. Rogers arbeitete weiter an seiner Doktorarbeit. Er entwickelte unter anderem einen Test zur Persönlichkeitsveränderung von Problemkindern, welcher noch über drei Jahrzehnte später verwendet wurde. Am Institute for Child Guidance arbeitete er zum ersten Mal als „Therapeut“ mit einem Delinquenten: „I made real progress in helping him, though I was full of psychoanalytic theories which I was trying out at that time“ (1967: 357). Das Institut war zu jener Zeit psychoanalytisch orientiert. Rogers hörte unter anderem Vorlesungen von Alfred Adler, eine Erfahrung, die ihn nicht sonderlich beeindruckte.

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Ende 1928 war sein zweites Kind, Natalie, unterwegs, und er suchte einen „richtigen“ Job. Für Psychologen gab es nicht viele Stellen. Binnen kurzer Zeit wurde er jedoch von der Rochester Society for the Prevention of Cruelty to Children eingestellt. Seine Aufgabe dort war es wiederum, mit Problemkindern zu arbeiten und Empfehlungen für deren weitere Behandlung auszusprechen. Die nächsten zwölf Jahre in Rochester verbrachte Rogers damit, sich um Delinquenten aus unterprivilegierten Familien zu kümmern. Hier entwickelten sich seine theoretischen Ansichten allmählich aus der täglichen Arbeitspraxis heraus: „There was only one criterion in regard  to any method of dealing with these children and their parents, and that was ´Does it work? Is it effective´“ (ebd.: 358). Dies soll kurz an einem Beispiel illustriert werden.

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Gängige Lehrmeinung damals war, dass Delinquenz auf unbewussten sexuellen Konflikten basiere und dass sie verschwände, wenn diese aufgedeckt würden. Bei einem  Pyromanen, mit dem Rogers arbeitete, zeigte sich, dass dieser starke Masturbationsphantasien hatte, womit der Fall zunächst gelöst schien. Kurze Zeit darauf steckte der junge Mann aber wieder ein Gebäude an. „Somehow this incident impressed me with the possibility that there were mistakes in authoritative teachings and that there was still new knowledge to discover“ (ebd: 358).

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In Rochester hörte Rogers unter anderem auch Vorlesungen von Otto Rank. Hier ist also eine mehr oder weniger direkte Verbindung zu Freud.

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"I was not too impressed with Rank´s theories but I was very much impressed with his description of his therapy. By this time some of my own staff workers were also interested in Rank´s work and some of them had taken courses at the Pennsylvania School of Social Work which was decidedly Rankian in its orientation. All this had an important impact on my thinking."  (ebd.: 360)

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Aufgrund seiner Praxiserfahrung wurde Rogers im Sommer 1935 gebeten, Vorlesungen am Teacher´s College zu halten. Dies war also seine erste Tätigkeit als Dozent. 1938/39 wurde das Child Study Department, in dem er arbeitete, zum Rochester Guidance Center erweitert, welches Rogers leiten sollte. Seine Ernennung zum Direktor sorgte für einiges Aufsehen, da ähnliche Kliniken im Lande von Psychiatern, nicht aber von Psychologen geleitet wurden.

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Zusätzlich begann er, Vorlesungen an der Universität in den Fakultäten Soziologie, Pädagogik und Psychologie über den Umgang mit Problemkindern zu halten. Rogers gewann allmählich an Ansehen. 1940 wurde ihm eine Professur an der Ohio State University angeboten, vermutlich aufgrund seines ein Jahr zuvor veröffentlichten Buchs Clinical Treatment of the Problem Child. Bezüglich seiner Professur schreibt er:

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"I heartily recommend starting in the academic world at the top level. I have often been grateful that I have never had to live through the frequently degrading competitive process of step-by-step promotion in university faculties, where individuals so frequently learn only one lesson – not to stick their necks out."  (ebd.: 361).

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Als Rogers an der Universität unterrichtete, wurde ihm allmählich klar, dass er seinen eigenen Standpunkt bezüglich Psychotherapie und der psychischen Entwicklung des Menschen gebildet hatte. 1942 schrieb er Counseling and Psychotherapy, in dem er seine Ansichten darstellte. Eine wichtige Neuerung, vor allem im Gegensatz zur Psychoanalyse, war, dass Rogers seine Ansichten über Psychotherapie der wissenschaftlichen Überprüfung zugänglich machte. Therapiesitzungen wurden auf Tonband aufgenommen, Ergebnisse gemessen. Näheres findet sich in Kirschenbaum (1979).

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1944 hielt Rogers Gastvorlesungen an der Universität von Chicago. Daraufhin wurde ihm dort eine Professur angeboten, die er aber erst 1945 antrat, da er damit beschäftigt war, Seelsorgern der Armee Beratungstechniken vorzustellen, mit denen durch den Krieg traumatisierten Soldaten geholfen werden konnte.

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In den folgenden zwölf Jahren, die Rogers in Chicago verbrachte, gründete er mit anderen Psychologen das sogenannte Counseling Center. Hier reiften seine Vorstellungen über Psychotherapie. Er selbst beschreibt diese Zeit wie folgt:

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"The center had 2800 counseling interviews with 605 individuals during its first ten months of work and the number steadily increased after that. It was a time of innovation in our educational methods and in our freewheeling administrative process. It was a germinal period for research hypotheses and theoretical formulations."  (1967: 64)

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1951 folgte die Veröffentlichung von Client-Centered Therapy, 1954 Psychotherapy and Personality Change. 1959 brachte er zum ersten Mal seine Theorie in zusammenhängender, übersichtlicher Form zu Papier in einem Aufsatz, der mit Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen ins Deutsche übersetzt wurde.

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In den Jahren in Chicago trug sich eine Episode zu, die von besonderer Bedeutung erscheint. Eine ehemalige Klientin war Rogers nach Chicago gefolgt und erneuerte ihren therapeutischen Kontakt mit ihm. Er behandelte diese offensichtlich schwer gestörte Patientin, obwohl er eine tiefe Abneigung gegen sie verspürte.

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"I handled her badly, vacillating between being warm and real with her, and then being more ´professional´ and aloof when the depth of her psychotic disturbance threatened me. This brought about the most intense hostility on her part [...] which completely pierced my defenses. I stubbornly felt that I should be able to help her and permitted the contacts to continue long after they had ceased to be therapeutic, and involved only suffering for me. [...] I somehow gave up myself in the relationship."  (ebd.: 367)

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Rogers war überfordert. Er stand kurz vor einem Zusammenbruch und hatte das Gefühl, fliehen zu müssen. Das tat er dann auch und überließ seine Patientin einem jungen Psychiater, was dazu führte, dass diese einen psychotischen Anfall erlitt. Rogers war schwer verunsichert. Er und seine Frau flohen für etwa drei Monate aus Chicago.

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"However, when we returned I was still rather deeply certain of my complete inadequacy as a therapist, my worthlessness as a person, and my lack of any future in the field of psychology or psychotherapy."  (ebd.: 367)

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Er hatte das Gefühl, dass seine Probleme so schwerwiegend seien, dass er sich niemandem anvertrauen konnte. Ein Mitglied seines Teams, Oliver Bown, erkannte dies und bot sich ihm als Therapeut an.

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"I accepted in desperation and gradually worked through to a point where I could value myself, even like myself, and was much less fearful of receiving or giving love. My own therapy with my clients has become consistently and increasingly free and spontaneous ever since that time."  (ebd.: 367)

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Was führte zu diesem Zusammenbruch? Was war der Grund? Schließlich ist es nicht ganz uninteressant, wenn der Begründer einer der größten therapeutischen Schulen der Welt selbst in die Lage kommt, Therapie in Anspruch nehmen zu müssen. Cohen vermutet, Rogers könnte eine Affäre mit dieser Frau gehabt haben, ein Verdacht, für den es allerdings nicht einmal ein Indiz gibt (Cohen 1997: 136). Kirschenbaum legt nahe, der Zusammenbruch könnte mit Rogers unaufgearbeiteter Kindheit zu tun haben. Alte, verdrängte Gefühle aus Kindheitstagen seien in der Beziehung zu der Psychotikerin mobilisiert worden und hätten zu der Krise geführt (1979: 193f.).

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Eine dritte Interpretation ließe sich anschließen. Der Kontakt mit schwer gestörten Menschen ist eine zutiefst beunruhigende Erfahrung, sowohl für Therapeuten als auch für „normale“ Menschen. Kommt es zu einer zu starken Identifizierung mit der hilfesuchenden Person, kann es passieren, dass der, der sich identifiziert, das Gespür für die eigenen Grenzen und Bedürfnisse verliert. Diese Erkenntnis führte Rogers zu der Formulierung eines wichtigen theoretischen Konstrukts, nämlich dem der „Kongruenz“, das heißt, die eigenen Bedürfnisse zu kennen und diese von denen anderer zu unterscheiden und sich eben nicht zu identifizieren. Eine genauere Erklärung erfolgt weiter unten.

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Angelockt durch ein nicht auszuschlagendes Angebot der University of Wisconsin, wechselte Rogers abermals seinen Standort und zog im Sommer 1957 nach Madison. Dort konnte er Vorlesungen über Psychiatrie und Psychologie halten, Psychiater und Psychologen ausbilden und selbst Therapie und Forschung betreiben, für ihn ein Traumjob. Sein Hauptinteresse zu diesem Zeitpunkt war die Arbeit mit psychotischen und „normalen“ Individuen, also den beiden Extrempunkten des Spektrums möglicher Klienten. Mit beiden Gruppen hatte Rogers wenig Erfahrung gesammelt.

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Privat war die Zeit in Madison sehr glücklich (1967: 369), beruflich gab es Höhen und Tiefen. Einerseits genoss es Rogers, Vorlesungen über Psychologie zu halten und in engem Kontakt mit seinen Studenten zu stehen, andererseits verärgerte ihn das rigide Notensystem der Fakultät, welches eine große Anzahl begabter junger Menschen scheitern ließ. Im April 1963 legte er seine Tätigkeit als Psychologiedozent nieder und behielt nur seine Stelle im Bereich der Psychiatrie. In der Zwischenzeit führte er die schwierigste Studie seines Lebens durch: Welche Auswirkung hatte die therapeutische Beziehung auf schwer schizophrene Patienten? 1200 Wissenschaftler waren beteiligt, doch gab es Probleme bei der Organisationsstruktur einer solch großen Gruppe. Missverständnisse entstanden, Material verschwand etc. Diese Zeit war: „[...] the most painful and anguished period in [his] whole professional life“ (ebd.: 371). Versuche mussten wiederholt werden, Ergebnisse wurden neu ausgewertet, bevor die Studie endlich veröffentlicht werden konnte.

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1961 erschien On Becoming a Person,  das wohl bekanntestes Buch von Rogers, in dem er in einer Reihe von Aufsätzen seine bis dato gewonnenen Erkenntnis darstellte. Von 1962 bis 1963 arbeitete er am Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Stanford. Dort kam er in Kontakt mit Michael Polanyi, dem berühmten Wissenschaftsphilosophen, und Lancelot  Whyte, „the historian of ideas“ (ebd.: 372). Seine Gespräche mit diesen beiden waren sehr gewinnbringend, und er war erfreut, dass seine Vorstellungen von Wissenschaft durch sie bestätigt wurden. Ein weiterer wichtiger Einfluss war der Kontakt mit Erik Erikson, „a splendid person whose very appearance is therapeutic“ (ebd.: 372) und anderen Psychoanalytikern.

"From them I learned what I had strongly suspected – that psychoanalysis as a school of thought is dead - but that out of loyality and other motives, none but the very brave analysts mention this fact as they go on to develop theories and ways of working  very remote from, or entirely opposed to, the Freudian views."  (ebd.)

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Ohne es zu wissen trug Rogers zur Gründung des Western Behavioral Sciences Institute bei, einer humanistisch ausgerichteten Organisation, die sich mit der Erforschung interpersoneller Beziehungen beschäftigte mit einem besonderen Interesse für die konstruktive Veränderung solcher Beziehungen. Rogers hatte zusammen mit Richard Farson und Thomas Gordon einen Workshop zum Thema Beziehungen durchgeführt, an dem Paul Lloyd, ein Wissenschaftler am California Institute of Technology, teilgenommen hatte. Nach langen Überlegungen riefen Farson und Lloyd  das WBSI ins Leben. Die beiden wollten auch Rogers bewegen, seine Stelle in Wisconsin aufzugeben und nach Kalifornien zu kommen. Dieser lehnte zunächst ab, wurde aber zunehmend unsicher, da die fortschreitende Bürokratisierung an der Universität ihn an seiner Arbeit hinderte. WBSI würde ihm interdisziplinäre Forschung mit anderen Wissenschaftlern ermöglichen sowie die Freiheit, seinen eigenen Interessen nachgehen zu können, ohne an die universitären Vorschriften gebunden zu sein. Diesen Schritt sollte Rogers nicht bereuen:

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"Our wildest hopes have been exceeded. I could not have believed, in advance, how much relief I would feel on being freed from the constrictions of university life. I have always done pretty much what I wanted to do, but I have had to discover that doing what you want to do, against scepticism and opposition, is a very different thing from doing what you want to do in an atmosphere of encouragement and congenial interdisciplinary stimulation. I have been more creative and productive than I have been for years."  (ebd.: 373)

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Rogers` Hauptinteresse zu dieser Zeit galt der Encountergruppen-Bewegung. Er interessierte sich für positive Persönlichkeitsveränderungen, die durch Gespräche in einer größeren Gruppe bewirkt werden könnten.

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1969 wechselte er zum Center for Studies of the Person, eine von ihm mitgegründeten Organisation, die aus gleichgesinnten Wissenschaftlern bestand. Das Center wurde die intellektuelle Heimat für den  Rest seines Lebens.

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Anfang der 70er wurde Helen schwer krank. Rogers hatte sich zu entscheiden, ob er sein eigenes Leben leben wollte, oder ob er den Krankenpfleger seiner Frau spielen wollte. Er entschied sich für die erste Option, was seine Ehe schwer belastete (vgl.: Rogers 19935: 52).

1969 hatte Rogers Lernen in Freiheit veröffentlicht (deutsche Ausgabe 1974), gefolgt 1970 von Encounter-Gruppen (deutsche Ausgabe ebenfalls 1974). Becoming Partners: Marriage and its Alternatives (deutsch: Partnerschule, 1975) erschien 1972 und On Personal Power 1977 (deutsch: Die Kraft des Guten, 1978). Sein letztes Buch, A Way of Being, (deutsch: Der Neue Mensch, 1981) kam 1980 in die amerikanischen Buchläden.

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Helen starb 1979. Rogers überlebte sie um acht Jahre, in denen er nichts von seiner Aktivität einbüßte. Anfang des Jahres 1987 wurde er ins Krankenhaus eingeliefert. Er verstarb am 4. Februar.

Die Theorie

 

 

Rogers formulierte seine Theorie nicht im luftleeren Raum. Die Psychologie, vor allem die psychotherapeutische Praxis, war geprägt durch ein psychoanalytisches Menschenbild, welches davon ausging, dass das Individuum von Natur aus triebhaft sei. Die beiden dominierenden Grundtriebe, so Freud, seien „Eros“ und „Destruktionstrieb“. Ziel des ersten sei es, immer größere Einheiten herzustellen und zu erhalten, also Bindung (vgl. Freud 1994a: 45), Ziel des zweiten sei Zerstörung:

 

 

"Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit [...] ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzten, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?" (Freud 1994b: 75f.)

 

 

Der radikale Unterschied der Theorie Rogers´ zur Psychoanalyse liegt in der Ansicht, dass der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen sei, in dem keine destruktiven Triebe wüten. Rogers postuliert nur eine übergeordnete Quelle menschlicher Motivation, die sogenannte Aktualisierungstendenz:

 

 

"Der Begriff bezeichnet die dem Organismus innewohnende Tendenz zur Entwicklung all seiner Möglichkeiten; und zwar so, daß sie der Erhaltung oder Förderung des Organismus dienen. [...] Der Begriff beinhaltet die Tendenz des Organismus zur Differenzierung seiner Selbst und seiner Funktionen, er beinhaltet Erweiterung im Sinne von Wachstum, die Steigerung der Effektivität durch den Gebrauch von Werkzeugen und die Ausweitung und Verbesserung durch Reproduktion. Dies meint die Entwicklung hin zu Autonomie und weg von Heteronomie oder der Kontrolle durch äußere Zwänge." (19913: 21 f.)

 

 

Der menschliche Organismus ist nach Rogers also kein passives Objekt, das den äußeren Umständen unterliegt, sondern ein aktives Subjekt, das sich in Interaktionen mit der Umwelt befindet, aktiv auf sie einwirkt und sich dadurch zu dem entwickelt, was ihm an äußeren und inneren Möglichkeiten gegeben ist. Diese Auffassung vom Organismus als sich selbst regelndes System, welches jedoch auf Ressourcen der Umwelt angewiesen ist, wurde inzwischen von den Naturwissenschaften bestätigt. Prigogine und seine Arbeitsgruppe haben darauf hingewiesen, dass alle offenen Systeme, solche also, die mit ihrer Umwelt Energie und Materie austauschen, dazu gehören alle lebendigen Organismen, also auch der Mensch, Merkmale der Selbstorganisation, der Selbstdifferenzierung und der Selbsterhaltung aufweisen (vgl. Höger 1993: 21). Maturana und Varela haben in der biologischen Grundlagenforschung den Begriff „Autopoiese“ (= Selbstherstellung) verwendet, um dieses konstituierende Wesen lebendiger Organismen zu beschreiben (vgl. ebd.). Höger fasst zusammen:

 

 

"Lebendige Organismen sind durch äußere Einwirkungen zwar beeinflußbar, aber nicht steuerbar. Sie bestimmen selbst, wie sie äußere Gegebenheiten aufgreifen und auf sie reagieren. Aber: Der Begriff „Autopoietische Systeme“ schließt deren unaufhebbare Abhängigkeit von der Umwelt mit ein, denn die dem Organismus eigenen Prozeßregeln können dessen Selbstherstellung ohne die auf sie abgestimmten Ressourcen nicht betreiben. Die Prozeßregeln des autopoietischen Systems und die strukturellen Bedingungen seiner Umgebung sind notwendig aufeinander komplementär abgestimmt." (ebd.: 24)

 

 

Nach dieser Auffassung ist der Mensch alles andere als ein von seinen Trieben geleitetes Etwas. Es liegt nicht im Wesen des Menschen, immer größere Einheiten zusammenzuführen (Eros) und andererseits wieder zu vernichten (Destruktions-trieb). Charakteristisch ist vielmehr der Wunsch, sich zu aktualisieren, sich zu verwirklichen und die gegebenen Umweltbedingungen auf die bestmögliche Weise zu nutzen.

 

 

Rogers legt jedoch Wert auf die Feststellung, dass auch er nicht blind ist für die sinnlose Gewalt, die tagtäglich geschieht, für die Kriege, denen Tausende zum Opfer fallen, und für die unglaublich zerstörerischen Verhaltensweisen vieler Individuen:

 

 

"Doch meine Erfahrung mit einzelnen und mit Gruppen hat mir gezeigt, daß das Individuum, wenn es sich der ihm offenstehenden Wahlmöglichkeiten voll bewußt ist, einer konstruktiven Wahl in Richtung auf soziale Harmonie den Vorzug gibt gegenüber einer destruktiven Richtung auf soziale Disharmonie. Es ist meine Hypothese, daß diese konstruktiven Potentiale in einem wachstums- und entwicklungsfördernden psychologischen Klima freigesetzt werden können. Ich behaupte, daß wir einige der Haltungen kennen, die für einen solchen konstruktiven Prozeß wesentlich sind." (19935: 7)

 

 

Im Gegensatz zur Psychoanalyse geht Rogers davon aus, dass der menschliche Organismus von Natur aus konstruktiv ist und dass es auf das psychologische Klima ankommt, dem ein Individuum ausgesetzt wird, ob es konstruktive oder destruktive Wege einschlägt. Rogers glaubt, dass dies für die Beziehung zwischen Therapeut und Klient ebenso gelte wie für Ehebeziehungen, Familienbeziehungen und für die Schule. Das Individuum steht mit all seinen Möglichkeiten im Mittelpunkt. Das psychologische „Klima“ entscheidet, welchen Weg es einschlägt. In der Therapie muss der Therapeut ein solches Klima schaffen, in dem Entfaltung und Erweiterung der Person aus sich selbst heraus stattfinden können. Daher der Name „personenzentriertes Konzept“. Die Person mit den in ihr angelegten Möglichkeiten steht im Mittelpunkt und nicht der Therapeut mit seinen Deutungen.

 

 

Im Folgenden möchte ich die wichtigsten Konstrukte der personenzentrierten Theorie vorstellen. Außerdem sollen die aus ihnen abgeleitete Theorie der Persönlichkeit, der Störung der Persönlichkeit, also der Psychopathologie, ebenso wie die Theorie der Psychotherapie dargestellt werden.

 

 

Das wichtigste Konstrukt ist das der „Erfahrung“:

 

 

"Dieser Begriff beinhaltet all das, was sich innerhalb des Organismus in einem bestimmten Augenblick abspielt und was potentiell der Gewahrwerdung zugänglich ist. Er schließt Ereignisse ein, deren sich das Individuum nicht gewahr ist, ebenso wie Phänomene, die im Bewußtsein (consciousness) sind. Somit beinhaltet er die psychologischen Aspekte des Hungers, selbst wenn das Individuum so fasziniert von seiner Arbeit oder seinem Spiel ist, daß es den Hunger gar nicht bemerkt; er beinhaltet visuelle Eindrücke und Wahrnehmungen von Geräuschen oder Gerüchen, selbst wenn diese nicht im Mittelpunkt der Beachtung stehen. Der Begriff Erfahrung schließt den Einfluß der Erinnerung und den vergangener Erfahrungen ein, sofern diese in einem bestimmten Augenblick aktiv sind und so die Bedeutung verschiedener Stimuli verändern. Er umfaßt auch all das, was der unmittelbaren Gewahrwerdung oder dem Bewußtsein präsent ist. Er schließt jedoch solche Ereignisse aus, wie zum Beispiel die Aktivitäten von Nervenzellen oder Blutzuckerveränderungen, weil diese nicht der direkten Gewahrwerdung zugänglich sind. In diesem Sinne handelt es sich um eine psychologische, nicht um eine physiologische Definition." (Rogers 19913: 23)

 

 

Es muss darauf hingewiesen werden, dass „Erfahrung“ nicht eine Ansammlung vergangener Erfahrungen meint, sondern das, was sich in einem Individuum in einem bestimmten Moment abspielt. Rogers hat sich in seinen Schriften bewusst verhalten dazu geäußert, was die Inhalte der organismischen Erfahrungen sind. Es finden sich wenig bzw. keine Aussagen über die Inhalte des Bewusstseins oder des „Unbewussten“. Vorstellen kann man sich innere Erfahrungen jedoch als zum Beispiel der Wunsch nach Nähe zu anderen Menschen, der Wunsch nach Sicherheit, das Bedürfnis nach Nahrung oder Sexualität, Wut, Trauer, Fröhlichkeit, Sorge etc.

 

 

Ein zweiter entscheidender Begriff ist der des „Selbst“ oder „Selbstkonzepts“.

 

 

"Diese Begriffe beziehen sich auf die organisierte, in sich geschlossene Gestalt. Diese beinhaltete die Wahrnehmungscharakteristiken des Ich, die Wahrnehmungen der Beziehungen zwischen dem Ich und anderen und verschiedenen Lebensaspekten, einschließlich der mit diesen Erfahrungen verbundenen Werte. Dieser Gestalt kann man gewahr werden, sie ist jedoch nicht notwendigerweise gewahr. Es handelt sich um eine fließende, eine wechselnde Gestalt, um einen Prozeß, der zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine spezifische Wesenheit ist, zumindest teilweise durch operationale Begriffe erfaßbar (wie z.B. durch das Q-Sort oder andere Meßinstrumente)." (ebd.: 26)

Das „Selbst“ kann verstanden werden als die Art und Weise, wie eine Person sich sieht, als die Anzahl der möglichen Aussagen, die eine Person über sich treffen kann. (Rogers wurde auf die Wichtigkeit dieses Konstrukts in seiner langjährigen Erfahrung als Therapeut aufmerksam gemacht. Er erkannte, dass Klienten immer wieder davon sprachen, sie seien nicht ihr wahres „Selbst“ etc., vgl. ebd.: 27.)

 

 

Der dritte wichtige Begriff ist der der „Symbolisierung“ bzw. „Gewahrwerdung“:

 

 

"In Anlehnung an Angyals Begriff ist Bewußtsein (oder Gewahrwerdung) die Symbolisierung eines Ausschnittes unserer Erfahrung. Gewahrwerdung, Symbolisierung, Bewußtsein werden somit als symbolische Repräsentation (nicht notwendigerweise in verbalen Symbolen) eines Teils unserer Erfahrung gesehen. Diese Repräsentation mag verschiedene Grade an Schärfe oder Klarheit aufweisen. Von einer dumpfen Gewahrwerdung von etwas, was tief innen existiert, bis hin zu einer scharfen Gewahrwerdung von etwas, was im Brennpunk steht." (ebd.: 24)

 

 

Ein Teil der oben erwähnten organismischen Erfahrungen wird also im Bewusstsein durch innere Bilder, verbale Symbole etc. repräsentiert bzw. symbolisiert. In einem Moment etwa, in dem die organismische Erfahrung „Hunger“ ist, könnten dem Individuum Bilder von belegten Butterbroten in den Sinn kommen. Durch diese symbolisiert es seine inneren Bedürfnisse.

 

 

Diese Sicht der Funktionsweise des Bewusstseins wird von einigen Positionen in der Gehirnforschung bestätigt. So weist Prinz darauf hin, dass es Sinn macht, die Beziehung zwischen Bewusstseinserscheinungen und Gehirnprozessen in zwei Teilbeziehungen zu unterteilen. Die eine sei eine Instantiierungsbeziehung zwischen Gehirn und kognitiven Prozessen. Das Gehirn erzeuge auf neuro-biologischer Basis kognitive Prozesse. Die andere sei eine Wahrnehmungsbeziehung. Sie betreffe das Verhältnis zwischen kognitiven Prozessen und den damit verbundenen Bewusstseinserscheinungen, der Art und Weise, wie ein Individuum diese kognitiven Prozesse in sich wahrnimmt und interpretiert, also deren konkreten Symbolisierung im Bewusstsein. Damit lehnt Prinz den sogenannten Bewusstseinsfundamentalismus ab, die Vorstellung, dass Bewusstseinserscheinungen fundamentale Gegebenheiten seien, zu denen wir unmittelbaren Zugriff haben. Er geht vielmehr davon aus, dass Berichte über Bewusstseinserscheinungen genauso zu verstehen sind wie Berichte über äußere Vorgänge, also als subjektive Interpretation kognitiver Prozesse und nicht als Abbild dieser Prozesse selbst (Prinz 1996: 454f).

 

 

An dieser Stelle wird es möglich, Aussagen über das Wesen psychischer Gesundheit bzw. psychischer Krankheit zu treffen. Nach Rogers ist ein Mensch dann psychisch gesund, wenn er oder sie ein Selbstkonzept hat, also eine Vorstellung von sich selbst, das es erlaubt, organismische Erfahrungen unverzerrt auf symbolischer Ebene im Bewusstsein zu repräsentieren. In diesem Fall spricht Rogers von „Kongruenz“, also Deckungsgleichheit, zwischen „Selbst“ und „Erfahrung“ (19913: 32). Hierbei spielt es keine Rolle, ob das, was integriert oder nicht integriert wird, gesellschaftlich akzepiert oder tabuisiert ist. Einzig und allein die Frage, ob eine Erfahrung symbolisiert werden kann oder nicht ist von Belang.

 

 

"Oft waren es gerade die positiven Gefühle der Liebe, Zärtlichkeit und des Vertrauens, die am heftigsten verleugnet wurden. Wie konnte man das verwirrende Konglomerat von Erfahrungen, die offensichtlich der Gewahrwerdung nicht zugänglich sind, erklären? Allmählich wurde deutlich, daß die Übereinstimmung mit dem Selbst das entscheidende Prinzip war: Erfahrungen, die mit dem Selbstkonzept des Individuums unvereinbar waren, wurden der Gewahrwerdung vorenthalten, ungeachtet ihres sozialen Charakters. Wir begannen das Selbst als einen Bereich zu verstehen, in dem der Organismus Erfahrungen aussortiert, die vom Bewußtsein (consciousness) nicht problemlos zugelassen werden können." (ebd.:28)

 

 

Bei dem Konstrukt „Kongruenz zwischen Selbst und Erfahrung“ handelt es sich um ein Konzept, das aus Rogers Arbeit als Therapeut entstanden ist. Es bezeichnet den Zustand, in dem Selbsterfahrungen exakt symbolisiert erlebt werden und diese Symbole im Selbstkonzept integriert werden können. Könne ein Individuum alle seine Erfahrungen symbolisieren, dann wäre es eine sich in völliger innerer Übereinstimmung befindliche Person, die also völlig psychisch gesund wäre (ebd.: 32). Wenn zum Beispiel ein Mensch seinen Wunsch nach Sexualität im Selbstkonzept integrieren kann, wenn er oder sie sich als eine Person sieht, die sich das Bedürfnis nach Sex zugestehen darf, dann liegt „Kongruenz zwischen Selbst und Erfahrung“ vor und der Mensch ist in diesem Bereich seines Erlebens psychisch gesund.

 

 

Der entgegengesetzte Fall liegt dann vor, wenn das Selbstkonzept einer Person so organisiert ist, dass bestimmte organismische Erfahrungen nicht oder nur verzerrt symbolisiert werden können. Hier spricht Rogers von „Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung“:

 

 

"Das Individuum nimmt sich selbst wahr als jemanden, der die Charakteristiken a, b und c besitzt und die Gefühle x, y und z erlebt. Eine exakte Symbolisierung dieser Erfahrung würde jedoch die Charakteristiken c, d und e und die Gefühle v, w und x aufweisen. Das Individuum befindet sich also in einem Zustand der Inkongruenz von Selbst und Erfahrung, weil solche Widersprüche bestehen." (ebd.: 29)

 

 

Ein Mensch, der sich im Zustand der Inkongruenz befindet, ist verletzlich. Desorganisation seiner Persönlichkeit kann jederzeit daraus resultieren, dass eine Erfahrung die Diskrepanz zum Selbstkonzept deutlich werden lässt. Dies verursacht Angst. Die nicht integrierbaren Erfahrungen bedrohen das Selbstkonzept, also die Identität. Der Organismus reagiert hierauf mit Abwehr (Dieser Begriff ist mit dem psychoanalytischen Begriff des Widerstandes mehr oder weniger gleichbedeutend). Ziel ist es, die derzeitige Struktur des Selbstkonzeptes aufrecht zu erhalten. Dies kann einerseits dadurch geschehen, dass bestimmte Erfahrungen dem Bewusstsein komplett vorenthalten werden („Ich brauche keinen Sex“). Andererseits können diese auch verzerrt symbolisiert werden („Sex rechtfertigt sich nur dadurch, dass er der Fortpflanzung dient“). Wenn eine Erfahrung also inkongruent mit dem Selbstkonzept ist, kann der Organismus mit einer Verzerrung der Bedeutung dieser Erfahrung reagieren, sie falsch im Bewusstsein symbolisieren, damit sie dem Selbstkonzept nicht mehr widerspricht und es somit nicht mehr bedroht. Dies ist das Wesen der Neurose.

 

 

Hierfür ließen sich zahlreiche Beispiele finden. Wie reagiert ein Schüler oder Student, der sich für äußerst begabt hält, wenn er widererwartend eine schlechte Note bekommt? Abhängig davon, wie starr sein Selbstkonzept ist, wird er es entweder modifizieren („Na ja, vielleicht bin ich doch nicht so gut.“), wie es eine reife, gesunde Person tun würde (vorausgesetzt natürlich, dass die schlechte Note gerechtfertigt ist). Oder er kann die Erfahrung verzerren („Der Lehrer/Dozent hat was gegen mich. Deswegen wollte er mich reinreißen.“).

 

 

Es folgen zwei Beispiele von Menschen, mit denen Rogers in seiner Arbeit als Therapeut zu tun hatte. Das erste stammt aus Rogers 1983 (166ff.). Die Mutter einer zwölf Jahre alten Tochter kommt zu ihm in die Therapie. Sie sieht sich selbst als eine gute und liebende Mutter. Gleichzeitig spürt sie in sich den Wunsch nach Freiheit, das zu tun, was sie gerne möchte. Sie fühlt sich durch ihre Mutterpflichten daran gehindert, Männer zu treffen. Ihr Selbstkonzept, ihre Vorstellung davon, wie sie als gute Mutter zu sein hat, lässt den Wunsch nach Sexualität nicht zu, obwohl dies von außen betrachtet natürlich nicht in der Natur der Sache liegt. Sie fühlt sich gefangen, glaubt, ihrer Tochter jederzeit zur Verfügung stehen zu müssen. Der Wunsch auszugehen, Männer zu treffen, lässt sie jedoch nicht los, obschon sie diesen als „schlecht“ erlebt. Mit anderen Worten: Sie kann ihr Bedürfnis nach Sex nicht ohne weiteres in ihr Selbstkonzept integrieren, d.h., sie kann es nicht symbolisieren. Ihre Vorstellung, dass eine gute Mutter „so etwas“ nicht tut, steht im Wege.

 

 

Das zweite Beispiel stammt aus Roger 1978 (246f.). Rogers beschreibt einen Jugendlichen, der in einem sehr religiösen Elternhaus aufgewachsen ist, in dem klar gemacht wurde, dass jeder sexuelle Wunsch, jeder sexuelle Impuls und jedes sexuelle Verhalten „böse“ und „schlecht“ sei. Eines Nachts wurde der Junge erwischt, als er im Haus der Nachbarn versuchte, das Nachthemd der schlafenden Tochter herunterzureißen. Er konnte mit einem festen Glauben daran, dass er die Wahrheit sagt, behaupten, dass nicht er dies getan habe, dass dies nicht sein Verhalten gewesen sei.

 

 

"Here his organism – with its natural curiosity, fantasies, and impulses, in the area of sex – had been so thoroughly denied that he was quite unaware of these aspects of his physical being. So his organism went on endeavoring to meet these needs, while his conscious mind could say quite accurately that his self had not been involved in the behavior." (ebd.: 247)

 

 

Diese Inkongruenz zwischen „Selbst“ und „Erfahrung“, so Rogers, stellt die innere Zerrissenheit dar, unter der viele Menschen leiden. Sie sei dafür verantwortlich, dass Menschen von ihren organismischen Erfahrungen entfremdet seien, dass sie an Neurosen litten, mit dem Leben nicht zurecht kämen und unglücklich würden (ebd.: 244).

 

 

Wie kommt es nun zu dieser Inkongruenz? Wie kommt es, dass Menschen ein Selbstbild entwickeln, in dem bestimmte organismische Erfahrungen (= neuro-biologische Prozesse) nicht oder nur verzerrt symbolisiert werden können? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, die Entwicklung der Persönlichkeit aus Sicht des personenzentrierten Konzeptes zu betrachten. (Im Folgenden: Rogers 19913: 48ff.)

 

 

Säuglinge besitzen eine angeborene Aktualisierungstendenz, so wie sie oben beschrieben wurde. Sie bewerten ihre organismischen Erfahrungen danach, ob sie dieser Tendenz förderlich sind oder nicht:

 

 

"[Das Kind] ist in einen organismischen Bewertungsprozeß eingebunden, der die Erfahrung an der Aktualisierungstendenz mißt. Erfahrungen, die als den Organismus erhaltend oder fördernd wahrgenommen werden, werden positiv bewertet; solche, die die Erhaltung oder Förderung stören, negativ. [...] Das Kind strebt nach den von ihm positiv bewerteten Erfahrungen und wendet sich von den negativ bewerteten ab." (ebd.: 48)

 

 

Auf diese Art und Weise wird der Bedürfnishaushalt des Kindes geregelt. Mal hat es Lust zu kuscheln, mal exploriert es unerforschtes Territorium hinter dem Sofa, mal hat es Heißhunger auf proteinhaltige Nahrung, im nächsten Moment vermeidet es diese ganz und verschlingt Unmengen an vitaminhaltigem Obst. Es läßt sich also von einem organismischen Bewertungsprozeß leiten.

 

 

"Dieses Konzept beschreibt einen fortwärenden Prozeß, in welchem Werte niemals endgültig fixiert sind, sondern Erfahrungen exakt symbolisiert und kontinuierlich in Hinblick auf die erlebte organismische Erfahrung bewertet werden. Der Organismus erlebt Befriedigung durch jene Stimuli oder Verhaltensweisen, die den Organismus und das Selbst erhalten und fördern und zwar gleichermaßen in der Gegenwart als auch auf lange Sicht. Die Aktualisierungstendenz ist hier das Kriterium." (ebd.: 37)

 

 

Ein Teil der Erfahrungen, die das Kind hat, werden also im Bewusstsein symbolisiert. Es hat somit Erfahrungen, die ihm sein “Selbst” bewusst werden lassen. Dieses Bewusstsein seiner “selbst” entwickelt sich hauptsächlich in Interaktionen mit der Umwelt, besonders durch zwischenmenschliche Beziehungserfahrungen. Sobald sich das Kind seiner selbst gewahr geworden ist, entwickelt es das Bedürfnis nach “positiver Beachtung” durch andere, vor allem durch seine Bezugspersonen. Rogers definiert positive Beachtung wie folgt:

 

 

"Wenn ich bei einem anderen Selbsterfahrungen wahrnehme, und dies zu einer positiven Veränderung meines Erlebnisfeldes führt, dann erlebe ich dem anderen gegenüber positive Beachtung. Der Begriff positive Beachtung schließt allgemein in seiner Definition Haltungen wie Wärme, Liebe, Respekt, Sympathie und Annerkennung ein. Sich selbst als jemanden wahrzunehmen, der positiv beachtet wird, bedeutet zu erleben, daß man eine positive Veränderung im Erlebnisfeld des anderen bewirkt." (ebd.: 34)

 

 

Das Bedürfnis nach positiver Beachtung durch Bezugspersonen wird umso verständlicher, wenn man bedenkt, dass Säuglinge bei der Geburt weniger entwickelt sind als andere Primatenjungen (vgl. Höger 1993: 33). Säuglinge sind klein und hilflos. Sie sind darauf angewiesen, von ihren Pflegepersonen versorgt zu werden.

 

 

Im Laufe der Entwicklung verknüpft sich die Erfahrung, von anderen positive Beachtung entgegengebracht zu bekommen oder eben nicht, mit der Selbsterfahrung, wird sozusagen zur Selbsterfahrung, und lässt das Bedürfnis nach positiver Selbstachtung entstehen. Das Kind möchte nicht nur von anderen positiv gesehen werden, sondern es möchte sich auch selbst in positivem Lichte sehen. Mit der Zeit lernt es die Bedingungen kennen, unter denen es sein Bedürfnis nach positiver Beachtung durch andere und somit nach positiver Selbstachtung am ehesten befriedigen kann. Es verinnerlicht also die Werte anderer und entwickelt „Bewertungsbedingungen“:

 

 

"Wenn eine Selbsterfahrung oder ein Cluster an Selbsterfahrungen allein deswegen gemieden oder angestrebt werden, weil sie als mehr oder weniger wertvoll für die Selbstachtung des Individuums eingeschätzt werden, dann ist die Selbststruktur charakterisiert durch eine Bewertungsbedingung. [...] Eine Bewertungsbedingung entwickelt sich, wenn die positive Beachtung einer Bezugsperson an Bedingungen geknüpft ist, wenn das Individuum erfährt, daß es in einigen Aspekten geschätzt wird, in anderen nicht. Allmählich wird diese Einstellung in den Komplex Selbstbezug assimiliert, und das Individuum bewertet eine Erfahrung als positiv oder negativ allein deshalb, weil diese Bewertungsbedingungen, die es von anderen übernommen hat, bestehen, und nicht deshalb, weil die Erfahrungen förderlich oder hinderlich für den Organismus sind." (Rogers 19913: 36)

 

 

Hierdurch entsteht ein sekundäres Regelsystem des Verhaltens, welches im Konflikt stehen kann, aber nicht muss, mit dem organismischen Bewertungssystem, in welchem sich die Aktualisierungstendenz zeigt.

 

 

Weniger formal ausgedrückt: Das Kind ist auf Liebe und Zuwendung angewiesen. Es kann ohne sie nicht leben. Mit der Zeit lernt es, welche Bedingungen es erfüllen muss, um von seinen Bezugspersonen Zuwendung zu bekommen. Dies ist derart fundamental für das Kind, dass es gezwungen wird, diese Bedingungen einzuhalten, egal ob sie dem Organismus förderlich sind oder nicht. Da das Kind nicht nur das Bedürfnis nach positiver Beachtung durch seine Nächsten hat, sondern auch nach positiver Selbstachtung, die jedoch nicht zu befriedigen ist, ohne von anderen positiv gesehen zu werden, wird das Kind gezwungen, die ihm gestellten Bedingungen auch sich selbst gegenüber zu stellen. Es verinnerlicht diese Werte, was dazu führen kann, dass Verhaltensweisen, die vom Organismus als befriedigend erlebt werden, wie z.B. sexuelle Betätigung, vom Bewusstsein als „schlecht“ verdammt werden. Andererseits können Erfahrungen, die der Organismus als negativ bewertet (z.B. durch körperliche Stresssymptome bei übermäßiger Arbeit), vom bewussten Selbst als konstruktiv angesehen werden, etwa in Form des Gedankens „Ich bin immerhin fleißig“ (ebd.: 50f.).

 

 

Hierzu ein Beispiel: Bekommt ein Kind von seinen Bezugspersonen nur dann positive Beachtung, wenn es viel und hart arbeitet, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als diese Bewertungsbedingung zu verinnerlichen, egal ob sie der organismischen Bewertung widerspricht oder nicht. „Man ist nur dann ein wertvoller Mensch, wenn man fleißig ist“. Unbestreitbar gibt es in unserer Kultur eine Tendenz dahingehend, dass diejenigen Individuen höher angesehen werden, die eben diese Bedingung erfüllen. Was aber, wenn eine Person, die sich nur dann als wertvoll erlebt, wenn sie arbeitet, arbeitslos wird? Die AOK gibt an, dass zwischen 20 und 60 Prozent aller Arbeitslosen psychisch oder physisch krank sind. Sie leiden häufiger unter Bluthochdruck, Herzflattern, Schweißausbrüchen und Stress. Außerdem haben sie häufiger Herzinfarkte und sterben im Allgemeinen auch früher. Fast alle Arbeitslosen seien von depressiven Störungen betroffen, bei 58 Prozent aller Jugendlichen ohne Job wurden behandlungsbedürftige psychische Erkrankungen festgestellt (AOK-Presseschau zit. in GwG-Info 1997: 77). Es sei nochmals betont, dass es sich hierbei um eine Information der AOK handelt, die somit als seriös zu gelten hat.

Auf die oben beschriebene Art und Weise kommt es also zu einer Dissonanz zwischen Selbstkonzept und organismischer Erfahrung. Erfahrungen, die den Bewertungsbedingungen widersprechen, um die sich das Selbstkonzept gebildet hat, werden abgewehrt oder verzerrt. (Die Psychoanalyse beschreibt dieselben Phänomene als Widerstand und Symptombildung.) Das Individuum lebt in ständiger Angst, solche Erfahrungen könnten ins Bewusstsein dringen und somit sein Selbstkonzept bzw. seine Identität bedrohen. Nur diejenigen Erfahrungen, die sich in Übereinstimmung mit dem Selbstkonzept befinden, werden voll im Bewusstsein symbolisiert. Hieraus wird deutlich, dass ein Mensch umso gespaltener ist, je mehr Bewertungsbedingungen dem organismischen Bewertungsprozess widersprechen. Das Verhalten und verbale Äußerungen solcher Menschen sind widersprüchlich. Mal handeln sie gemäß ihrem Organismus und versuchen etwa, ihre Sexualität zu befriedigen, mal werden sie durch ihr bewusstes „Selbst“ gesteuert und verteufeln sexuelle Wünsche. Durch diese Dissonanz zwischen Organismus und Selbstkonzept entstehen Neurosen. Diese können verstanden werden als vom Bewusstsein verzerrte organismische Bedürfnisse, die deshalb verzerrt werden, damit sie die verinnerlichten Bewertungsbedingungen erfüllen und sich somit in Übereinstimmung mit dem Selbstkonzept befinden.

 

 

"Dies ist aus unserer Sicht die grundlegende Entfremdung des Menschen. Er ist nicht er selbst; er ist seinen natürlichen organismischen Bewertungen der Erfahrungen untreu. Nur um sich die positive Beachtung der anderen zu erhalten, verfälscht er einige wertvolle Erfahrungen und nimmt sie lediglich auf der Ebene der Bewertungen anderer wahr. Jedoch ist dies keine bewußte Entscheidung, sondern eine natürliche, ja tragische Entwicklung während der Kindheit. Der Weg der Entwicklung Richtung psychischer Reife, der Weg der Therapie, besteht in der Aufhebung dieser Entfremdung des menschlichen Handelns, der Auflösung der Bewertungsbedingungen, der Erreichung eines Selbst, welches in Übereinstimmung mit der Erfahrung ist, die Wiederherstellung eines einheitlichen organismischen Bewertungsprozesses als Regulator des Verhaltens." (ebd.: 52)

 

 

Wenn Liebe an Bedingungen geknüpft wird, und diese Bedingungen nicht vereinbar sind mit organismischen Bedürfnissen, dann kommt es zu einer inneren Spaltung im Menschen. Es entsteht „Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung“.

 

 

Rogers weist darauf hin, dass gerade die westlichen Kulturen dadurch gekennzeichnet sind, dass sie den in ihnen lebenden Individuen Werte aufnötigen, die sie nicht einhalten können. Der Mensch, so Rogers, wird auf Verhaltensweisen konditioniert, die eigentlich Perversionen der natürlichen Richtung seien, in die die Aktualisierungstendenz führen würde, würde sie nicht vereitelt (Rogers 1978: 247). Das Resultat sei eine Person, die sich bewusst nach den internalisierten Konstrukten verhält, unbewusst aber versuche, ihre organismischen Bedürfnisse zu befriedigen (ebd.: 248). Rogers betont, dass die Entfremdung des Menschen von sich selbst nicht von Natur aus gegeben sei, sondern anerzogen, in besonderem Maße, wie bereits gesagt, in den westlichen Kulturen:

 

 

"The extremely common estrangement of the human being from her directional organismic processes is not a necessary part of our nature. It is instead something learned, and learned to an especially high degree in our western culture. It is characterized by behaviors that are guided by rigid concepts and constructs, interrupted at times by behaviors guided by the organismic processes. The satisfaction or fulfillment of the actualizing tendency has become bifurcated into incompatible behavioral systems, of which one may be dominant at one moment, and the other dominant at another moment, but at a continual cost of strain and inefficiency. This dissociation that exists in most of us is the pattern and the basis of all psychological pathology in humankind, and the basis of all his social pathology as well." (ebd.)

 

 

Was dieses Dissonanzmodell angeht, so möchte ich darauf hinweisen, dass Freud ähnlicher Auffassung ist. Auch dieser hat schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass Liebesentzug das Mittel sei, Menschen zu zwingen, Werte zu verinnerlichen und auf sich selbst anzuwenden. Diese internalisierten Werte bezeichnet Freud als Über-Ich:

 

 

"Wir haben auch gehört, wie man die Strenge des Über-Ichs, also die Gewissensforderung, verstehen kann. Sie setzt einfach die Strenge der äußeren Autorität, die von ihr abgelöst und teilweise ersetzt wird, fort. [...] für ein drohendes äußeres Unglück – Liebesverlust und Strafe von Seiten der äußeren Autorität – hat man ein andauerndes inneres Unglück, die Spannung des Schuldbewußtseins, eingetauscht." (Freud 1994b: 90f.)

 

 

Freud leitet aus den beobachtbaren Phänomenen ein anderes theoretisches System ab als Rogers. Für ihn schlagen sich die Werte der Bezugspersonen im Über-Ich nieder, für Rogers entstehen aus ihnen Bewertungsbedingungen, um die herum sich das Selbstkonzept bildet. Der wesentliche Unterschied zwischen Freud und Rogers liegt, wie weiter unten erläutert wird, in der Art und Weise, wie der menschliche Organismus gesehen wird.

 

 

Wie kann nun das Klima beschrieben werden, in dem ein Mensch aufwachsen muss bzw. dem er in der Psychotherapie ausgesetzt werden muss, um nicht inkongruent sich selbst gegenüber zu werden bzw. um die existierende Inkongruenz aufzulösen. Rogers´ Forschungsergebnisse zeigen, dass drei Bedingungen gegeben sein müssen, damit persönliches Wachstum ermöglicht wird. Diese Bedingungen seien sowohl für die Beziehung zwischen Therapeut und Klient, zwischen Eltern und Kindern, wie auch zwischen Lehrern und Schülern relevant (Rogers 19935: 67).

 

 

Die erste Bedingung ist, dass der Therapeut, Elternteil, Lehrer etc. der sich in ihrer Entwicklung befindlichen Person „bedingungslose positive Beachtung“ entgegenbringt. Diese beschreibt Rogers wie folgt:

 

 

"Wenn die Selbsterfahrungen eines anderen durch mich in der Art und Weise wahrgenommen werden, daß keine dieser Selbsterfahrungen danach unterschieden werden, ob sie meiner positiven Beachtung mehr oder weniger wert sind, dann erlebe ich bedingungslose positive Beachtung für diese Person. Sich selbst wahrzunehmen als jemand, der bedingungslose positive Beachtung erhält, heißt, daß keine meiner Selbsterfahrungen vom anderen als mehr oder weniger seiner positiven Beachtung wert eingeschätzt wird." (Rogers 19913: 34)

 

 

Hierbei ist wichtig, dass die positive Beachtung, Wertschätzung, Liebe etc. bedingungslos ist, da sonst im Individuum Bewertungsbedingungen entstehen.

 

 

Positive Beachtung ist jedoch zwecklos, wenn nicht klar wird, was Gegenstand des Anerkennens ist, welche konkrete Erfahrung also gemeint ist. Anerkennen ohne Erkennen macht keinen Sinn. Deswegen muss die betreffende organismische Erfahrung „empathisch“ verstanden werden. Dies ist die zweite Bedingung:

 

 

"Empathisch zu sein bedeutet, den inneren Bezugsrahmen des anderen möglichst exakt wahrzunehmen, mit all seinen emotionalen Komponenten und Bedeutungen, gerade so, als ob man die andere Person wäre, jedoch ohne jemals die „als ob“- Position aufzugeben. Das bedeutet, Schmerz oder Freude des anderen zu empfinden, gerade so wie er empfindet, dessen Gründe wahrzunehmen, so wie er sie wahrnimmt, jedoch ohne jemals das Bewußtsein davon zu verlieren, daß es so ist, als ob man verletzt würde usw. Verliert man diese „als ob“ – Position, befindet man sich im Zustand der Identifizierung." (ebd.: 37)

 

 

Die Forderung, der Therapeut müsse seinen Klienten empathisch verstehen, wurde häufig von Kritikern des klientenzentrierten Konzeptes missverstanden. „Verstehen“ wurde mit „wiederholen“ oder „verbalisieren“ gleichgesetzt. Hierbei handelt es sich um ein Missverständnis von solchen Kritikern, die etwas über Rogers gehört, selbst aber nicht nachgelesen haben. Rogers schreibt an keiner Stelle, dass bloßes Wiederholen positive Persönlichkeitsveränderungen bewirkt. „Empathisches Verstehen“ kann sich auf vielerlei Weisen ausdrücken, natürlich unter anderem auch als Zurücksagen dessen, was man verstanden hat, aber eben nicht nur. Man stelle sich ein kleines Kind vor, das hinfällt, anfängt zu weinen und zu seiner Mutter rennt. Würde die Mutter die Gefühle des Kindes lediglich verbalisieren („Du weinst, weil dir das Knie weh tut.“), würde sich das Kind vermutlich völlig missverstanden fühlen. „Empathisch Verstehen“ hieße in diesem Fall, das Kind in den Arm zu nehmen, es zu trösten. Es liegt in der Feinfühligkeit des Elternteils bzw. des Therapeuten genau das zu sagen oder zu tun, was das Kind oder der Klient braucht, damit es ihm besser geht.

 

 

Die dritte Bedingung ist, dass der Therapeut oder die Bezugsperson seinem eigenen Erleben gegenüber kongruent ist, dass er seine Erfahrungen unverzerrt im Bewusstsein symbolisieren kann, ohne bestimmte Erfahrungen verdrängen zu müssen (ebd.: 67). Dieses Konstrukt ist das Resultat der oben erwähnten Episode in Rogers´ Leben, in der er sich von einer psychotischen Klientin überfordert fühlte. In seiner Beziehung zu dieser ist Rogers nämlich genau das passiert: Er hat das Gespür für seine eigenen Bedürfnisse verloren.

 

 

Warum sind diese drei Bedingungen wichtig? Warum charakterisieren sie das „Fruchtwasser“, in dem optimale Entwicklung möglich ist, in dem die Aktualisierungstendenz greifen kann? Die Voraussetzung für eine konstruktive, ungestörte Entwicklung, die zu psychischer Reife führt, ist, wie oben beschrieben, die Möglichkeit, alle Erfahrungen des Organismus unverzerrt zu symbolisieren. Die Symbolisierung von Erfahrungen ist davon abhängig, in wieweit diese von einer Bezugsperson verstanden und akzeptiert worden ist. (Es sei daran erinnert, dass autopoietische Systeme, wie etwa der Mensch, auf ihre Umwelt, also auch auf andere Individuen derselben Spezies angewiesen sind.) Erfahrungen werden durch Verständnis und Anerkennung durch andere Menschen zu Selbsterfahrungen. Verstehen ohne zu erkennen, worum es geht ist jedoch sinnlos. (Etwa: „Ich habe keine Ahnung wovon du sprichst, aber ich mag dich.“ Dies beinhaltet die Gefahr, dass, wenn diese Person verstünde, sie ihr Gegenüber nicht mehr mögen würde.) In welchem Maß die Bezugsperson eine Erfahrung verstehen und akzeptieren kann, ist aus einem bestimmten Grund wiederum von ihrer eigenen Kongruenz abhängig: Erfahrungen, die sie selbst unterdrücken muss, die sie bei sich selbst nicht akzeptiert, wie z.B. sexuelles Verlangen, kann sie auch bei anderen nicht akzeptieren. Täte sie es, käme sie mit ihren eigenen verinnerlichten Werten in Konflikt. Um ihre eigene Persönlichkeit zu schützen, um die derzeitige Gestalt des Selbstkonzeptes zu wahren, werden bestimmte Erfahrungen in ihr selbst und bei andern abgelehnt.

 

 

Somit hängen alle drei Bedingungen zusammen und bilden eine unauflösliche Einheit. Bedingungslose positive Beachtung ist nicht wirksam, ohne dass der Gegenstand der Beachtung empathisch verstanden worden ist. Verständnis setzt jedoch die eigene Kongruenz gegenüber der entsprechenden Erfahrung voraus. Ist eine Bedingung nicht gegeben, egal welche, zerfällt diese Einheit und es entsteht kein persönlichkeitsförderndes Klima.

 

 

Dieser Zusammenhang soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: Angenommen der oben beschrieben Junge, der nachts dabei erwischt wurde, wie er der Nachbarstochter die Kleider vom Leibe reißen wollte, würde eine Therapie machen. Aus personenzentrierter Sicht ist sein Problem, dass er seine sexuellen Bedürfnisse nicht im Bewusstsein symbolisieren kann, weil sie den ihm anerzogenen Bewertungsbedingungen widersprechen. Es ist kein Platz dafür in seinem Selbstkonzept, was an seiner Aussage zu erkennen ist, es handele sich nicht um sein Verhalten. Damit diese Inkongruenz im Laufe der Therapie aufgehoben werden kann, muss der Therapeut a) empathisch verstehen, dass es um sexuelle Bedürfnisse geht, und nicht etwa um nächtliches Schlafwandeln, b) diese akzeptierend anerkennen (bedingungslose positive Beachtung), c) dies kann er aber nur, wenn er seinen eigenen sexuellen Bedürfnissen gegenüber kongruent ist, wenn er diese nicht verdrängen muss, d.h. wenn er ein Selbstkonzept besitzt, in welchem diese symbolisiert werden können.

 

 

Empathie, positive Beachtung und Kongruenz hängen unmittelbar zusammen. Fällt ein Element weg, entsteht kein wachstumsförderndes Klima. Es wäre z.B. denkbar, dass der Therapeut empathisch erfasst, dass es um Sexualität geht, dieses Bedürfnis aber aufgrund der eigenen Persönlichkeitsstruktur nicht anerkennen kann. Der umgekehrte Fall ist auch möglich: Der Therapeut weiß nicht, was sich im Klienten abspielt, signalisiert aber Akzeptanz. Für den Klienten birgt dies die Gefahr, dass, würde er wirklich verstanden, er womöglich abgelehnt würde.

 

 

Wie sieht nun ein Mensch aus, der oben genannten Bedingungen in optimaler Weise ausgesetzt war? Rogers schreibt:

 

 

"Nehmen wir an, man würde einem Kind erlauben, seine eigenen, einzigartigen Gefühle zu haben; nehmen wir an, es hätte nie Gefühle verleugnen müssen, um geliebt zu werden. Nehmen wir an, seine Eltern wären frei, ihre eigenen, einzigartigen Gefühle zu haben und zu äußern; diese wären natürlich anders als die des Kindes und würden auch untereinander verschieden sein. Ich stelle mir gern die ganzen Bedeutungen vor, die eine solche Erfahrung hätte. Es würde bedeuten, daß das Kind im dem Bewußtsein aufwüchse, sich als einzigartigen Menschen zu respektieren. [...] Eine solche Erziehung würde bedeuten, daß sein Verhalten realistisch ausbalanciert wäre in der Berücksichtigung seiner eigenen Empfindungen wie auch der bekannten und offenen Gefühle anderer. Das Kind wäre, glaube ich, ein verantwortungsvolles und selbstbestimmendes Individuum, das nie hinter einer Fassade leben müßte. Es wäre relativ frei von den Fehlanpassungen, die so viele von uns verkrüppeln." (Rogers zit. in Wild-Missong 1983: 93)

 

 

Wie sich unschwer erkennen lässt, bestehen sowohl Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten zwischen Psychoanalyse und personenzentriertem Konzept wie auch unüberbrückbare Unterschiede.

 

 

So sind sich Freud und Rogers unter anderem mehr oder wenig einig über die Entstehung des sogenannten Über-Ich, obwohl dieser Begriff in der Literatur zum klientenzentrierten Konzept selten auftaucht. Rogers sah den Menschen Sigmund Freud in sehr positivem Licht (vgl. Kirschenbaum 1979: 251), zeigte sich jedoch bestürzt über den Weg, den dessen Theorie genommen hat und kritisiert, dass diese zum Dogma erhoben wurde:

 

 

"Freud selbst war sich immer bewußt, daß auch seine höchst kreativen Theorien niemals mehr als Theorien darstellten. Er überarbeitete und änderte seine Theorien ständig, indem er alten Begriffen neue Bedeutungen gab – immer jedoch maß er den beobachteten Fakten mehr Gewicht zu als seinen Theorien. Aber in den Händen unsicherer Anhänger, so scheint mir, entwickelte sich sein feinmaschiges Gebilde zu einem eisernen Dogma, aus dem sich die dynamische Psychologie erst seit kurzer Zeit zu befreien beginnt." (Rogers 19913: 16)

 

 

Der größte Unterschied zwischen Freud und Rogers liegt in der Auffassung von der Natur des menschlichen Organismus. Freud ging davon aus, wie oben beschrieben, dass dieser von zerstörerischen Impulsen getrieben wird, die es zu beherrschen gilt.

 

 

Dieses Denken lässt sich bis zum heutigen Tage in den Alltagstheorien vieler Menschen finden. Anlässlich der Ausschreitungen deutscher Hooligans am Rande der Fußballweltmeisterschaft 1998 findet sich auf der Titelseite des Spiegels vom 26.6.1998 das Bild von einem männlichen Oberkörper mit einem Wolfskopf und einem Baseballschläger in der Hand. Überschrift: „Schauplatz Fußball-WM. AGGRESSION. Das Tier im Menschen.“ Im entsprechenden Artikel heißt es: „Offenbar ist das Böse für den Menschen attraktiver als das Gute – ganze Gesellschaftssysteme wurden darauf errichtet“ (ebd.: 82). Es komme in der Erziehung schon frühzeitig darauf an, Triebe und Affekte des Kindes zu mäßigen (ebd.: 88).

 

 

Hinter diesen Auffassungen verbirgt sich psychoanalytisches Gedankengut: Der Mensch sei eine reißende Bestie, die lediglich von ihrem Über-Ich davon abgehalten werde, Unheil anzurichten. Ähnliches hört man in der Diskussion um Menschen, die kleine Kinder vergewaltigen und ihnen anschließend den Kopf abschneiden. Zeigt sich hier die menschliche Natur in „Reinform“, oder handelt es sich hier um eine Verdrehung, eine Perversion der menschlichen Natur? Rogers geht von der zweiten Hypothese aus:

 

 

"Das Paradigma der westlichen Gesellschaft lautet, daß der Mensch im Grunde gefährlich ist; deshalb müsse er von Personen höherer Autorität belehrt, geführt und kontrolliert werden. Doch unsere Erfahrung und die einer wachsenden Zahl humanistischer Psychologen hat gezeigt, daß ein anderes Paradigma sowohl für den einzelnen als auch für die Gesellschaft weitaus effektiver und konstruktiver ist. Dieses besagt, daß die Menschen, sofern ein geeignetes psychologisches Klima vorhanden ist, vertrauenswürdig, schöpferisch, eigenmotiviert, tatkräftig und konstruktiv sind – kurz, daß sie fähig sind, Potentiale freizusetzen, von denen sie sich nichts hätten träumen lassen." (19935: 103f.)

 

 

Diese Sichtweise des menschlichen Organismus ist weit entfernt von Freuds Misstrauen dem Unbewussten gegenüber. Der Organismus ist, so Rogers, vertrauenswürdig. Man könne sich auf sein Erleben verlassen:

 

 

"Ich kann meiner Erfahrung trauen. Eine der fundamentalsten Einsichten, zu deren Erkenntnis ich lange Zeit brauchte und die ich heute noch zu begreifen lerne, ist die: wenn ich bei einer Tätigkeit empfinde, sie sei in sich wertvoll oder wert, getan zu werden, dann ist sie es auch. Anders gesagt: ich habe gelernt, daß das Gefühl, mit dem mein ganzer Organismus eine Situation wahrnimmt, verläßlicher ist als mein Intellekt." (1994: 38)

Außerdem:

 

 

"Erfahrung ist für mich die höchste Autorität. Der Prüfstein für Gültigkeit ist meine eigene Erfahrung. Keine Idee eines anderen und keine meiner eigenen Ideen ist so maßgeblich wie meine Erfahrung. Ich muß immer wieder zur Erfahrung zurückkehren, um die Wahrheit, wie sie sich in mir als Prozeß des Werdens darstellt, ein Stück näher zu kommen. Weder die Bibel noch die Propheten, weder Freud noch die Forschung, weder die Offenbarungen Gottes noch des Menschen können Vorrang vor meiner direkten Erfahrung haben." (ebd.:39)

 

 

Rogers bietet folgende Erklärung für das Zustandekommen von Freuds negativem Menschenbild: Menschen könnten zwar einen Teil ihrer unbewussten Erfahrung gewahr werden. Ohne fremde Hilfe sei es jedoch nicht möglich zu einer völligen emotionalen Akzeptanz dieser Gefühle zu kommen, vor allem, wenn sie den Bewertungsbedingungen widersprechen. Dazu bedürfe es einer zwischenmenschlichen Beziehung, die durch die oben genannten Bedingungen gekennzeichnet sei. Freud habe sich einer Selbstanalyse unterzogen, habe aber nie selbst therapeutische Hilfe in Anspruch genommen:

 

 

"Freud in his self-analysis was deprived of this warmly acceptant relationship. Hence, though he might come to know and to some extent to understand the hidden and denied aspects of himself, I question whether he could ever come to accept them fully, to embrace them as a meaningful, acceptable, and constructive part himself. More likely he continued to perceive them as unacceptable aspects of himself – enemies, whom knowing he could control – rather than as impulses which, when existing freely in balance with his other impulses, were constructive. At any rate I regard this as a hypothesis worthy of consideration." (Rogers zit. in Kirschenbaum 1979: 251)

 

 

Zurück zu dem Fall der Kinderschänder. Der Leser möge selbst entscheiden, welche Theorie ihm eher einleuchtet: Ist bei diesen Menschen das Über-Ich zu schwach ausgebildet, so dass unbewusste, zerstörerische Kräfte frei werden? Oder leidet dieser Mensch an einer stark gestörten Persönlichkeit, wuchs er unter derart ungünstigen Bedingungen auf, dass er nur ein verstümmeltes Selbstkonzept aufbauen konnte, in dem der Wunsch nach Sexualität eben nicht anders symbolisiert werden kann, als durch „kranke“ Phantasien? (Es sei darauf hingewiesen, dass die Bedingungen, unter denen solche Menschen aufgewachsen sind, natürlich ermittelt werden können. Man könnte z.B. die Hypothese aufstellen, dass die Eltern dieser Menschen ihnen nicht das Recht auf eine autonome Sexualität zugestanden haben, dass dieses eventuell sogar unterdrückt wurde. Diese Hypothese ist falsifizierbar und erfüllt somit ein wesentliches Kriterium der Wissenschaftlichkeit.)

 

 

 

Die Gesprächspsychotherapie (Stand: 1999)

 

 

Im Folgenden möchte ich kurz einige Informationen über die Rezeption und die Verbreitung der Gesprächspsychotherapie geben. (Der Begriff „Gesprächspsychotherapie“ ist hierzulande die gebräuchliche Übersetzung des amerikanischen „Client-Centered-Therapy“.)

 

 

Rogers wurde weltweit rezipiert. Er gilt neben Abraham Maslow und anderen als Mitbegründer der Humanistischen Psychologie, der sogenannten „Third Force“ neben Behaviorismus und Psychoanalyse. In Deutschland wurde Rogers´ Theorie 1968 durch die Veröffentlichung Gesprächspsychotherapie von Tausch und Tausch bekannt. In den 70er Jahren wurden die ersten Bücher von Rogers ins Deutsche übersetzt. Seitdem hat sich der personenzentrierte Ansatz hier fest etabliert, sowohl im psychotherapeutischen und sozialpädagogischen Bereich wie auch im akademischen Bereich der klinischen Psychologie an den Universitäten. 1970 wurde die GwG gegründet, die Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie, die mittlerweile der größte Therapieverband in der BRD ist. Sie gibt die Ausbildungsrichtlinien vor und bildet in klientenzentrierter Gesprächspsychotherapie aus wie auch in klientenzentrierter Gespächsführung. Die Ausbildung zum Psychotherapeuten setzt eine allgemeine psychologische Grundausbildung voraus, normalerweise ein Psychologiestudium. Außerdem sind Eigentherapie und Selbsterfahrung wesentliche Bestandteile. Die GwG hat unter anderem die Aufgabe der Fort- und Weiterbildung der Therapeuten sowie deren Interessenvertretung gegenüber gesundheits- und sozialpolitischen Instanzen, die Zusammenarbeit mit anderen Therapieverbänden und die wissenschaftliche Diskussion und Klärung des theoretischen Standortes (Gilles 1987: 122).

 

 

Im Augenblick kämpft die Gesprächspsychotherapie um ihre kassenärztliche Anerkennung, die bisher in der BRD noch nicht erfolgt ist. Hierzulande haben die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapie nach wie vor das Monopol auf die psychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung, was durch die Kassenrichtlinien festgelegt wird. Nach wie vor sind die meisten Ärzte, die Therapien durchführen psychoanalytisch orientiert. (Interessanter Weise hat es die Psychoanalyse in den USA nicht geschafft, in das Gesundheitsprogramm aufgenommen zu werden, vgl. Adamaszek 1987: 66.)

 

 

"Heute wird in der Bundesrepublik die Hegemonie der Psychoanalyse künstlich aufrecht erhalten. Die Kassenrichtlinien protegieren ihre zweifelhaften Methoden, obgleich inzwischen offenkundig ist, daß nicht die Methode des Therapeuten, sondern die Persönlichkeit aller Beteiligten, der Therapeuten und der Patienten, d.h. ihrer Beziehung zueinander, das Entscheidende ist." (ebd.: 69)

Literaturverzeichnis:

 

Adamaszek, R.: „Psychoanalyse“. In: H. Zygowski (Hg.): Psychotherapie und Gesellschaft. Rowohlt, Reinbek 1987, 46-71.

 

AOK-Presseschau vom 11.4.1997. In: Gesprächspsychotherapie und Personenzentrierte Beratung. Heft 2, 1997, S. 77.

 

Cohen, D.: Carl Rogers. A Critical Biography. Constable, London 1997.

 

Der Spiegel. Nr. 27, 29.6.1998.

 

Freud, S.: Abriß der Psychoanalyse (1941). Fischer, Frankfurt a.M. 1994a.

 

Freud, S.: Das Unbehagen in der Kultur (1930). Fischer, Frankfurt a.M. 1994b.

 

Freud, S.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916-17).Fischer, Frankfurt a.M. 1991.

 

Gilles, A.: „Gesprächspsychotherapie“. In: H. Zygowski (Hg.): Psychotherapie und Gesellschaft. Rowohlt, Reinbek 1987, 98-126.

 

Höger, D.: „Organismus, Aktualisierungstendenz, Beziehung – die zentralen Grundbegriffe der Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie“. In: J. Eckert, D. Höger und H. Linster (Hg.): Die Entwicklung der Person und ihre Störung. Entwurf einer ätiologisch orientierten Krankheitslehre im Rahmen des klientenzentrierten Konzeptes. Band 1. GwG, Köln 1993, 17-41.

 

Kirschenbaum, H.: On Becoming Carl Rogers. Delacorte, New York 1979.

 

Prinz, W.: „Bewußtsein und Ich-Konstitution“. In: G. Roth und W. Prinz (Hg.): Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1996, 451-467.

 

Rogers, C.R.: „Carl R. Rogers“. In: E.G. Boring und G. Lindzey (Hg.): A History of Psychology in Autobiography. Band 5. Appleton-Century-Crofts, New York 1967, 341-384.

 

Rogers, C.R.: Der neue Mensch (1980). Klett-Cotta, Stuttgart 19935.

 

Rogers, C.R.: Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen entwickelt im Rahmen des klientenzentrierten Ansatzes (1959). GwG, Köln 19913.

 

Rogers, C.R.: Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten (1961). Klett-Cotta, Stuttgart 199410.

 

Rogers, C.R.: On Personal Power. Inner Strength and its Revolutionary Impact. Constable, London 1978.

 

Rogers, C.R.: Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. Fischer, Frankfurt a.M. 1983.

 

Wild-Missong, A.: Neuer Weg zum Unbewußten. Focusing als Methode klientenzentrierter Psychoanalyse. Otto Müller, Salzburg 1983.

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